ARGUMENTATIONSSTRATEGIEN IM EXPERTENDISKURS ZUR WIRTSCHAFTS- UND FINANZKRISE – FRAME-SEMANTISCH BETRACHTET Laurent Gautier Centre Interlangues Texte Image Langage (EA4182) Université Bourgogne Franche-Comté
GLIEDERUNG ① Problemstellung und Ziele ② Korpus ③ Methodologischer Rahmen ④ Diskussion ⑤ (Argumentativer!) Ausblick
1. PROBLEMSTELLUNG UND ZIELE Ausgangspunkt: Finanz- und Wirtschaftskrise als
Diskurskonstruktion Objektivistische vs. konstruktivistische Ansätze zur Krisensemantik (Lakoff 1987, Kayser 1995, Kleiber 1998) Krise ist kein sensorisches Erlebnis => Auswirkungen auf die Definition des Begriffs und den Anteil enzyklopädischen Wissens Busses Unterscheidung zwischen „perzeptuell überprüfbarem
Wissen“ und „perzeptuell zum Zeitpunkt des Verstehensvorgangs nicht überprüfbarem Wissen“ (1997: 17)
Wissen zur Krise für nicht-Experten ist mediatisiertes
Wissen, im konkreten und übertragenen Sinne (knowledge by description) : « Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur » (Luhmann 1996 : 9)
Doppelter Konstruktionsprozess: Konstruktion eines Diskurses (hier: zur Krise) Konstruktion eines Wissens bzw. von Wissenssegmenten (hier:
zur Krise) ⇒ Notwendigkeit einer Methodologie, welche – über eine „lexikalische Semantik“ - Wissenskomponenten vorsieht und mit berücksichtigt, im Sinne von Busse: „Die Frage: was gehört zum „Sprachwissen“ (zur „sprachlichen Bedeutung“) und was zum „Weltwissen“ (zum „Kontextwissen“, „kommunikativen Sinn“ usw.) ist meistens untrennbar mit der Frage verknüpft: womit will ich mich als Linguist noch beschäftigen und was interessiert mich nicht mehr (oder: womit will (soll, darf) ich mich nicht mehr beschäftigen) (...) (Busse 1995 : 14) => Analyse des Krisendiskurses ist notwendig interdisziplinär angelegt (Gautier, Ed. 2012 ; Rocci/Palmieri/Gautier Eds 2015)
Welcher Diskurs bzw. welche Diskurssegmente sind für den
Krisendiskurs konstitutiv? Mediendiskurse bringen 2 Schwierigkeiten mit sich: Eben die mediatisierte Dimension: immer von der
betroffenen Zeitung/Zeitschrift abhängig (vgl. Lejeune 2005 für Le Monde, Wengeler 2010 für Der Spiegel) Kein fachlicher Diskurs (auch wenn Popularisierungsdiskurs wohl nicht der geeignete Begriff ist) Expertendiskurs: ein Typ fachlichen Diskurses, der das
Expertenwissen zur Krise versprachlicht (Maesse 2015): Akademischer Diskurs (etwa der VW-Forschung) Institutioneller Diskurs „Beruflicher“ Diskurs
Palmieri/Palmieri (2012: 97)
Doppelte Problemstellung: Problemstellung 1: Plädoyer für einen Perspektivenwechsel (1) Chronologischer Vorrang, des Expertendiskurses (Lejeune 2005) (2) Diskurszirkulation (Moirand 2007, Burger et al. 2008) (3) Strategien medienspezifischer Realisierungen/ Umformungen des Expertendiskurses (Lejeune 2005) (4) Dekonstruktion des Mediendiskurses durch den Bürger, die zur Konstruktion eigener Wissenssegmente führt (eine Art „Bürgerwissen“ zur Krise)
Problemstellung 2: Rückgriff auf eine geeignete
Methodologie über die rein lexikalische Wortperspektive hinaus, die für
den Expertendiskurs wenig relevant ist : wenige Definitionen, wenige Reformulierungen, sehr viel „Implizites“, welches auf Fachwissen beruht „Der größte Teil des verstehensrelevanten Wissens – vor allem das, was man im üblichen Verständnis zur Semantik rechnet – ist in dem Sinne nicht allein sprachlich, dass es nicht mit ausschließlich linguistischen Mitteln beschrieben werden kann, sondern mit Mitteln, welche allgemeine enzyklopädische Informationen und Beschreibungsverfahren zuhilfe nehmen, beschrieben werden muss.“ (Busse 1997: 29)
Suche nach einer Methodologie, die zweierlei ermöglicht:
die Schnittstelle zwischen Sprache, Diskurs und
Wissen in den Vordergrund zu stellen die Wissenskomponenten bzw. –segmente zu modellieren Suche nach einem Korpus, welches das Expertenwissen zur Krise versprachlicht => 2. CORPUS
2. KORPUS Grundkriterien in Diskurssemantik (Busse/Teubert 1994) : Kommunikative Homogenität Zeitliche und räumliche Homogenität Diskursive Homogenität Thematische Homogenität Ein zusätzliches Kriterium für den Expertendiskurs: das „Expertentum“ des Korpus sicherstellen
Zum Expertentum: Diskurs der deutschspr. National- bzw. Zentralbanken
im Zeitraum 2006-2007 Formkriterien: ein institutioneller, „autorisierter“ Diskurs ein periodischer Diskurs (Monats- bzw. Quartalsberichte) => serielle Texte typisierter Diskurs performativer Diskurs Qualitätskriterien Grundlegende Rolle der Nationalbanken in den krisenpolitischen Entscheidungen Nationale Perspektivierung finanz- bzw. volkswirtschaftlicher Ereignisse auf der Analyse wirtschaftlicher Indikatoren beruhende Perspektivierungen, die es ermöglichen, sich den Krisendiskurs anzunähern
III. METHODOLOGISCHER RAHMEN Allgemeiner Rahmen: Frame-Semantik im Dienste der
Diskurssemantik (Busse als erster für den juristischen Diskurs, Fraas 1996, Ziem 2008): „Man kann diese Grenzüberschreitung (= „der Limes der traditionellen Linguistik und logischen Sprachphilosophie“) datieren, mit jenem Moment im Jahre 1971, in dem Fillmore für die linguistische Semantik vorschlägt, die übliche (und seiner Ansicht nach falsche) Frage: ‚Was ist die Bedeutung dieser Form?‘ (d.h. dieses Wortes, Satzes) durch die Frage zu ersetzen: ‚Was muss ich wissen, um eine sprachliche Form angemessen verwenden zu können und andere Leute zu verstehen, wenn sie sie verwenden?‘“. (Busse 2008: 236)
Grundlagen: Fillmoresche Kasusgrammatik FrameNet-Projekt
Frame semantics characterizes the semantic and syntactic properties of predicating words by relating them to semantic frames. These are schematic representations of situations involving various participants, props, and other conceptual roles, each of which is a frame element (FE). The semantic arguments of a predicating word correspond to the FEs of the frame or frames associated with that word. » (Johnson/Fillmore)
Lexikographische Ansätze (Konerding 1993) : Reduzierung der Lexik auf Hyperonymklassen: ZUSTAND,
VORGANG, EREIGNIS, ORGANISMUS Verbindung jedes Hyperonyms mit einem assoziierten Wissenssegment Spezifizierung der Bedeutung des Kohyponyme auf der Basis der Hypernonymmatrix (einzelne Bedeutunsgkomponenten) Anwendung der Frame-Semantik in der Diskurssemantik: Ausgangspunkt im Diskurs, nicht nur in der Lexik Suche nach dem Hyperonym für Krise im Diskurs und
hinter den Vertextungsstrategien (vgl. infra) Berücksichtigung dieser Vertextungsstrategien bei der Konzeptualisierung
Krise/Crise im Wörterbuch (Lexik-Ebene): (1) Crise : Phase grave dans l’évolution des choses, des événements, des idées. (Robert) (2) Domaine écon. et fin. Dans un cycle économique, dysfonctionnement, souvent caractérisé par la surproduction ou la dépression, le chômage et, en économie capitaliste, un effondrement des cours boursiers. (TiLF) (3) Krise : schwierige Lage, Situation, Zeit (die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt); kritische Situation, Schwierigkeit; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins (Duden) Welche Hyperonymmatrix? EREIGNIS ZUSTAND ⇒ Mögliche Verbindung mit prototypischen Prädikatsklassen ⇒ Was wird daraus im Diskurs?
IV. DISKUSSION Wie wird KRISE im Expertendiskurs frame-semantisch dargestellt? Aus der Perspektive der Prädikatstypologie: EREIGNIS: besondere Syntax ZUSTAND vs. QUALITÄT: Frage nach den chronologischen
Grenzen Im untersuchten Diskurs Vertextungsstrategien, die eher Vorgangsprädikate fokussieren Im Mediendiskurs: Ursache, zeitliche Ausdehnung, Teilnehmer, Auswirkungen,Vergleichbarkeit (Wengeler 2010, Ziem 2010) Im Expertendiskurs: vorgangsbetonte Perspektivierung, Desagentivierung/Instrumentalisierung, zeitliche Sequenzierung
Vorgangsbetonte Perspektivierung: Umwandlung von HANDLUNGS- in VORGANGS-
Prädikate KRISE wird zu PATIENS (4) Im Zuge der vom US-Immobilienmarkt ausgehenden Finanzkrise (Monatsbericht, juillet 2009) (5) Der Ausbruch der Finanzkrise Mitte 2007 (id.) (6) Les contraintes de bilan particulièrement ressenties au lendemain de l’éclatement de la crise des subprimes (Bulletin mensuel, été 2008) (7) l’extension rapide de la crise aux autres grands pays industrialisés (Bulletin mensuel, été 2009)
Auswirkungen auf die Konzeptualisierung: TEILNEHEMER werden in den Hintergrund gerückt vs.
PERSONIFIZEURNG im von Wengeler analysierten Pressekorpus (2010) Die wenigen HANDLUNGS-Prädikate perspektiveren die KRISE als AGENS (vs. TEILNEHEMER) (8) Die Finanzkrise hat nicht nur zu starken Veränderungen der nominalen Wechselkurse geführt, sie hat auch einen erheblichen Einfluss auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit vieler Währungsräume. (Monatsbericht, juillet 2010) (9) La crise, qui affecte (?) en particulier le secteur de la banque de financement et d’investissement, a ainsi pesé sur les résultats du troisième trimestre. (Bulletin mensuel, décembre 2007) Integration in NP-Strukturen mit verdeckten Nebenprädikationen
DESAGENTIVIERUNG/INSTRUMENTALISIERUNG als
Nebenerscheinung zur vorgangsbetonten Perspektivierung: Eindeutige Auffassung der KRISE als INSTRUMENT Viele Lexikalisierungen wie krisenbedingt : (9) die krisenbedingten Veränderungen an den Devisenmärkten (9’) Veränderungen an den Devisenmärkten, die durch die Krise verursacht wurden Zahlreiche Passivstrukturen mit KRISE in der INSTRUMENTRolle (10) die möglichen Belastungen durch die Krise (11) Des risques de surendettement aggravés par la crise financière
ZEITLICHE SEQUENZIERUNG als Hauptmerkmal KRISE dient der Strukturierung der Zeitlexik:
(12) Krisenperiode,Vorkrisenperiode, Krisenjahre, Krisenbeginn… Zeitliche Entwicklung der Krise wird als qualitative Entwicklung konzeptualisiert: (13) Nachdem sich die Krise am amerikanischen Hypothekenmarkt bis zum Sommer 2008 zu einer globalen Finanzkrise ausgebreitet und sich die Konjunkturaussichten weltweit entsprechend eingetrübt hatten… (14) la crise financière, entraînant concomitamment la dégradation des perspectives de recettes extérieures des PFR et donc l’augmentation des besoins de financement,
Auswirkungen auf den Konzeptualisierungsmodus: Die KRISE beruht auf einer eigenen
ENTWICKLUNGSDYNAMIK Die kognitive Annäherung an die KRISE setzt die VERGLEICHBARKEIT unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Momente voraus Dominanz von EREIGNIS-Prädikaten + ZUSTÄNDE (vs. EIGENSCHAFT) Der Konzeptualisierungsmodus ermöglicht es, die Vorperiode unter dem Begriff URSACHE und die Nachperiode unter dem Begriff AUSWIRKUNGEN zu subsumieren Im Mediendiskurs: doppelte zeitliche Perspektivierung durch einen Vergleich mit früheren Krisen, insbesondere der vom Jahre 1929 (Wengeler 2010), die zur DRAMATISIERUNG führt
V. (ARGUMENTATIVER!) AUSBLICK Methodologischer Ansatz, der Diskurs mit Wissenskonstruktion
verbindet, etwa im Sinne von Wittgenstein „Die Bedeutung des Wortes ist, was die Erklärung der Bedeutung erklärt“, PU, §560) Hauptunterschiede mit dem Mediendiskurs: Hauptrolle kommt dem Fachwissen zu; Im Fachwissen liegen die bevorzugten Versprachlichungsstrategien
begründet Jede „naive“ Lesart (Wahrheit verstecken, manipulieren, usw.)
übersieht diese Komponente.
Argumentationsmuster? Rekurrenz, die zur Typisierung bzw. Bildung von Topoi
führt Argumentativer Gebrauch bestimmter Wissenskomponenten Verfestigung von Argumentationsmustern mit Rückwirkungen auf lexikalische Bestandteile (Ziem 2014 zu Globalisierung) Deutliche argumentative Funktion der zeitlichen Sequenzierung (VOR, WÄHREND, NACH) => Frage: welche Beziehung zur Funktion dieses Diskurses, jenseits maximalistischer Argumentationsmodelle?
Danke für die Aufmerksamkeit !
[email protected] Centre Interlangues « Texte Image Langage » (EA4182) Axe « Modèles et discours » Université Bourgogne Franche Comté