Z Betriebswirtsch (2012) 82:707–709 DOI 10.1007/s11573-012-0576-x REZENSIONEN
Albert Martin: Handlungstheorie: Grundelemente menschlichen Handelns, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, Darmstadt, 248 Seiten, ISBN: 978-3534244201, 39,90 € Wenzel Matiaske
Dass der homo oeconomicus handeln soll, sich aber nicht verhalten darf – wie Kappler und Trost (1977) in der damaligen Diskussion um eine handlungstheoretische Fundierung der Betriebswirtschaftslehre notierten – ist der Betriebswirtschaftslehre zu einer gewohnten Position geworden. Das Interesse an Grundlegungen der Betriebswirtschaftslehre ist seither merklich abgeklungen. Jenseits der Dominanz unternehmerisch orientierter Praxisforschung haben verhaltenswissenschaftlich orientierte Betriebswirte in der Folge insbesondere (sozial-)psychologische Theorien und Befunde aufgegriffen, wohingegen im Lager der Handlungstheoretiker manche Aufweichung der strikten Rationalitätsannahmen und mittlerweile, insbesondere in der volkswirtschaftlich dominierten Literatur, eine Vielzahl von ad hoc Forschung zu Entscheidungsanomalien und Adaptionen (individual-)psychologischerVariablen zu beobachten sind. Kurz: Systematisierende Überlegungen statt kompilierender Darstellungen – sei es aus verhaltens- oder handlungstheoretischer Perspektive – sind, nicht nur im deutschsprachigen Raum, bemerkenswerte Ausnahmefälle. Albert Martins Werk zur Handlungstheorie ist ein solcher Ausnahmefall, der sich nicht ohne weiteres einem der Lager zuordnen lässt. Denn Martin orientiert die systematische Darstellung seiner verhaltenstheoretischen Überlegungen eng an Problemen der Handlungstheorie und ihren Leitbegriffen: „Präferenzen“, „Unsicherheit“, „Definition der Situation“, „der Wille“ und schließlich „das Selbst“ lauten die Überschriften der Kapitel seines Buches. Deutliche Parallelen zum Programm einer Handlungstheorie der „zweiten Generation“ – um einen Ausdruck von Elinor Ostrom aufzugreifen –, wie sie insbesondere in Arbeiten der neuen ökonomischen oder rational choice Soziologie vertreten wird, sind also nicht zu übersehen. Deren Protagonisten – wie beispielsweise James S. Coleman, Hartmut Esser oder Siegward Lindenberg – kommen allerdings, ebenso wie die Altvorderen einer empirisch orientierten und verhaltenstheoretisch fundierten Entscheidungstheorie,
Online publiziert: 20.04.2012 © Gabler-Verlag 2012 Prof. Dr. W. Matiaske () Institut für Personalwesen und Internationales Management, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail:
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nur beiläufig zu Wort. Deren Texte bilden gewissermaßen den im Hintergrund mitlaufenden Diskurs, von der sich Albert Martins Argumentation systematisch absetzt. Gegenüber der Fixierung des rational choice auf das Aggregationsproblem und der Inkaufnahme einer vereinfachenden und unrealistischen Handlungstheorie zum Zweck der Erklärung kollektiver Phänomene des Sozialen, plädiert Martin für eine „Tiefenfundierung“, welche individuelles Handeln (sozial-)psychologisch basiert besser verstehen und erklären lässt. Der vom Autor im Eingangskapitel prononcierte Begriff „vernünftigen Verhaltens“ geht entsprechend auch über eine erweiterte Fassung der Zweckrationalität hinaus und umfasst, in der Terminologie Max Webers, zudem die Wertrationalität individuellen Verhaltens. Ausgehend von dieser erweiterten Begriffsfassung diskutiert der Autor in den folgenden Kapiteln Standardprobleme der Theorie und Empirie menschlichen Entscheidens und Handelns. Ein Schlüsselkapitel ist – in meiner Rezeption – die Diskussion und Weiterführung des Konzepts der Situationsdefinition. Das auf Thomas und Thomas (1928) zurückgehende Theorem, dass nämlich von Handelnden als real definierte Situationen reale Konsequenzen zeitigen, spielt in der jüngeren soziologischen Diskussion zur Handlungstheorie eine prominente Rolle. Hartmut Esser (1996) hat das Konzept genutzt, um habituelles Verhalten in die Handlungstheorie integrieren zu können. Konsistent mit dieser Basistheorie konstruiert Esser die Situationsdefinition als Wahlhandlung, die den Wechsel vom habituellen zum zweckrational kalkulierenden Modus und vice versa rahmt; aus der Sicht Albert Martins ein unhaltbarer Umgehungsversuch der (sozial-)psychologischen Grundlegung des Thomas-Theorems. Situationsdefinitionen sind nicht nur sozial konstruiert, sondern verweisen auf Handeln als Bemühen mit Problemen zurechtzukommen, die aus den Anforderungen der Handlungssituation und der psychologischen Verfassung des Handelnden entspringen. Mit dem Rekurrieren auf den Problemhandhabungsansatz, der auf der Einsicht basiert, dass Menschen Probleme nicht lösen, sondern handhaben, gewinnt Martin einen eigenständigen Zugang zur Integration des Verhaltens in den Handlungsbegriff. Hier ist anzumerken, dass diese theoretische Einbettung mit Simon (1955) einen prominenten Vorläufer in der ökonomischen Theoriebildung hat. Konsequenterweise diskutiert Martin im Anschluss mit Überlegungen zum menschlichen Willen und Selbst zwei zentrale Aspekte der Integration von Handlungs- und Verhaltenstheorie. Handlungen enden nicht mit der Wahl von Alternativen; vielmehr sind diese in sozialen Situationen umzusetzen. Über diese Einsicht hinaus, die auch von psychologischen Verfechtern der Handlungstheorie geteilt wird, diskutiert Martin nicht nur die Logik des Willens, sondern auch soziale und individuelle Aspekte der Willensschwäche und des Commitments zu Entscheidungen. In der Rekonstruktion des Selbst unter den Aspekten der Identität, der Erfahrung und der Sinnstiftung integriert der Autor zentrale psychologische Erkenntnisse in die Handlungstheorie. Die Zusammenführung von Situation, Wille und Selbst eröffnet schließlich einen alternativen, verhaltenorientierten Zugang zur Dialektik von Struktur und Handlung, die in der Organisations- und Personalforschung der vergangenen Dekade eine prominente Rolle spielte. Die ebenso entspannte wie kenntnisreiche Herangehensweise und die bildhafte Sprache des Autors bieten dem informierten Leser eine vergnügliche Lektüre, die gelegentlich darüber hinweg täuscht, welch fundamentalen Fragen der basalen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung hier behandelt werden. Dies jedoch ist ein Vorzug des Buches mit
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Blick auf den Einsatz in der Lehre, der sich in entsprechenden Kursen des Master-Studiums mit Schwerpunkten in der Personal- und Organisationsforschung empfiehlt.
Literatur Esser H (1996) Die Definition der Situation. Kölner Z Soziol Sozialpsychologie 48:1–34 Kappler E, Trost OA (1977) Der homo oeconomicus soll „handeln“, aber er darf sich nicht „verhalten“: Thesen zur Diskussion der handlungstheoretischen Konzeption der Betriebswirtschaftslehre. In: Köhler R (Hrsg) Empirische und handlungstheoretische Forschungskonzeptionen in der Betriebswirtschaftslehre. Poeschel, Stuttgart, S 167–179 Simon HA (1955) A behavioral model of rational choice. Q J Econ 69:99–118 Thomas WI, Thomas DS (1928) The child in America: Behavior problems and programs. Knopf, New York