Acto de derroche: Bolaños 2666 und die Globalisierung des Kriminalromans

August 27, 2017 | Author: Miriam Lay Brander | Category: Globalization, Gift Exchange, Jacques Derrida, Detective Fiction, Latin American literature, Genre Theory, ROBERTO BOLAÑO, Genre Theory, ROBERTO BOLAÑO
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Acto de derroche: Bolaños 2666 und die Globalisierung des Kriminalromans

Von MIRIAM LAY BRANDER (Konstanz)

Abstract: Mit 2666 schreibt Bolaño sich in ein Weltnetzwerk der Kriminalliteratur ein und transzendiert dieses zugleich, indem er das Motiv der Ermittlung in einer Endlosschleife von Deutungsverheißung und Desillusion ad absurdum führt. Dabei rekurriert er, wie in Anlehnung an Derrida gezeigt wird, auf eine Ästhetik der Verschwendung: Die Ökonomie des Tausches und der Gabe entgrenzt sich zu einem Akt der Verschwendung, der das literarische Schreiben zwar jenseits von wirtschaftlichen Interessen und Ökonomien des Schreibens (Gattungserwartungen, Kanon etc.) situiert, diese jedoch zugleich mit impliziert. La novela 2666 de Bolaño se inscribe en una red mundial del género policíaco y, al mismo tiempo, la trasciende reduciendo al absurdo el motivo de la investigación en un bucle infinito de promesas hermeneúticas y desilusión. Recurre, como intentamos demostrar apoyándonos en Derrida, a una estética del derroche. Así, la economía del don y del cambio se desborda hacia un acto de derroche, que sitúa lo literario más allá del interés económico y de las economías de la escritura (normas de género literario, el canon etc.) pero a la vez los implica. Keywords: Bolaño, Kriminalroman, Gattung, Globalisierung, Ästhetik der Gabe Bolaño, novela policíaca, género literario, globalización, estética del don

Globalisierung einer Gattung Dass der Kriminalroman eine im alltagssprachlichen Sinne globale Gattung ist, die sich ausgehend von Europa mittlerweile in allen Ländern mit einem eigenständigen Literatursystem verbreitet hat, ist kaum noch zu bestreiten. Uneinigkeit könnte aber darüber bestehen, ob der 2004 posthum veröffentlichte Roman 2666 des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño zur Gattung des Kriminalromans gezählt werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist eng verbunden mit der Gattungskonzeption, die man zugrunde legt, was den Blick einerseits auf eine allgemeine Auffassung von Gattung und andererseits auf die Definition der Gattung Kriminalroman hin öffnet. Gattungen werden in der Literaturwissenschaft in der Regel als Gruppen von Texten verstanden, die sich aufgrund von formalen, inhaltlichen sowie pro-

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duktions- und rezeptionsästhetischen Kriterien bilden lassen. Dies führt zu den bekannten Problemen: Als historisch-soziale Institutionen stehen Gattungen stets in einem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation. Gattungen sind Begriffe, die als solche statisch, zugleich als historische Institutionen aber einem Prozess der Veränderung unterworfen sind. Gerade «[d]ie Zeit von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute ist in der Praxis der Literatur eine Epoche des ungeregelten und unfesten Gattungswesens. Es gibt allenthalben Überschneidungen, Mischformen, Auflösungstendenzen»1. Diese Offenheit des Gattungssystems und der einzelnen Gattungen muss dem Gattungsforscher jedoch keinesfalls zum Nachteil werden. Denn, so Suerbaum, «[g]erade das Fehlen fester Grenzen fördert die Flexibilität der Gruppenbildung innerhalb der Literatur und die enge Verflechtung zwischen Sprachkunst und Normalsprache»2. In der modernen, insbesondere der anglistischen Gattungstheorie besteht die Tendenz, die Suche nach einem eindeutigen Klassifizierungsschema aufzugeben, ohne jedoch wie die Poststrukturalisten eine Abschaffung des Gattungssystems zu fordern, und stattdessen auf wesentlich flexiblere Partizipationsmodelle zurückzugreifen.3 Diese Gattungsmodelle sind gerade im Hinblick auf transkulturelle Gattungsbeziehungen fruchtbar,4 da sie Gattungen als offene Systeme und nicht festgelegte Einheiten konzipieren. Grundlage der Partizipationsmodelle ist der Familienähnlichkeitsbegriff Wittgensteins5. Auf die literarischen Gattungen übertragen impliziert dieser, dass nicht alle Exemplare einer Gattung in denselben Merkmalen übereinstimmen müssen, sondern es kommt von einem Exemplar zum anderen zu kleinen Verschiebungen. Es kann daher sein, dass zwei Texte gar keines der gängigen Gattungsmerkmale miteinander teilen, aber dennoch durch eine Reihe von Zwischengliedern miteinander verbunden sind. Bolaños 2666 kann keiner der Untergattungen des Kriminalromans (z.B. Rätselroman, schwarzer Roman oder Spannungsroman6) eindeutig zugeordnet werden.7 Dennoch lässt er eine 1 Ulrich Suerbaum: «Text, Gattung, Intertextualität», in: Ein anglistischer Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hg. von Bernhard Fabian. Berlin: Schmidt 2004, 82–125, hier 89. 2 Suerbaum: «Text, Gattung, Intertextualität» (Anm. 1), 88. 3 Vgl. Suerbaum: «Text, Gattung, Intertextualität» (Anm. 1), 94–95. 4 Vgl. Friederike Pannewick / Christian Szyska: «Crossings and Passages in Genre and Culture – An Introduction», in: Crossings and Passages in Genre and Culture. Hg. von Friederike Pannewick / Christian Szyska. Wiesbaden: Reichert 2003, 1–9, hier 5. 5 Zur Übertragung des Familienähnlichkeitsbegriffs in die Literaturwissenschaft vgl. Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung. Paderborn: Schöningh 1993, 23–25. 6 Zu einer Typologie des Kriminalromans vgl. Tzvetan Todorov: Poétique de la prose, Paris: Seuil 1971, 55–65. 7 Vgl. Adriana Castillo Berchenko: «Roberto Bolaño et le genre policier ou la réversion de l’énigme», in: Cahier d’études romanes 9 (2003), 147–160, hier 148.

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Familienähnlichkeit mit den verschiedenen Ausprägungen der Gattung erkennen, mit denen er mindestens ein zentrales inhaltliches Merkmal teilt: die Ermittlung im Falle eines Verbrechens. Allerdings geht es nicht nur um einen einzigen Fall, in dem ein einziger Detektiv (oder mehrere Detektive) ermitteln, sondern die Verbrechen und die Detektive, die sie erforschen, multiplizieren sich ins Unüberschaubare. Außerdem finden nicht nur kriminale Ermittlungen statt, sondern auch solche psychologischer, politischer, sozialer und literarischer Art. Im Gegensatz zur traditionellen Trias Rätsel – Ermittlung – Auflösung werden die Ermittlungen in der Regel nicht zu Ende geführt, sondern laufen ins Leere. Der Exzess der Morde einerseits und der Ermittlungen andererseits führt zu einer Unverfügbarkeit der Lösung. Die Zuordnung von 2666 zum Genre des Kriminalromans ist allein über die traditionellen Gattungsmerkmale also kaum noch zu rechtfertigen. Allerdings existieren, ganz im Sinne des Familienähnlichkeitsmodells, Intertexte, die zwischen dem Prototyp des Kriminalromans und 2666 vermitteln. Bolaño knüpft mit seinem Roman an unterschiedliche Diskurse der neueren Kriminalliteratur wie z.B. den investigativen Journalismus in argentinischer Tradition oder an Verfahren der Metanarration, wie die borgesianischen atribuciones erróneas8 an, in denen das Erzählen gegen sich selbst ermittelt. Als thematischen Intertext könnte man den Roman Morena en rojo der in Argentinien geborenen Autorin Myriam Laurini anführen, der den sexuellen Missbrauch und die Prostitution von Kindern und ihre Verschleppung über die Nordgrenze des Landes hinweg schildert9 und damit eine ähnlich skandalöse Form der Gewalt wie die von Bolaño dargestellten Frauenmorde in Ciudad Juárez thematisiert. Die auffälligsten inhaltlichen Ähnlichkeiten, vor allem im Hinblick auf La parte de los críticos, bestehen jedoch mit dem Roman Filosofía y Letras des argentinischen Schriftstellers Pablo de Santis, einer als Kriminalroman verfassten Satire auf den Literaturbetrieb, die sich wiederum das Modell des ursprünglich anglophonen academic thriller oder der campus novel aneignet. Ohne nachweisen zu können, dass Bolaño sich auf diese Vorbilder gestützt hat, machen die Ähnlichkeiten seines Romans mit ihnen deutlich, dass 2666 in einem globalen Netz von Kriminalromanen steht und sich, ob freiwillig oder unfreiwillig, zu diesen in Beziehung setzt. Die Literatur hat im Hinblick auf die kulturelle Globalisierung eine doppelte Position inne: Sie beobachtet und verarbeitet Prozesse der Globalisierung 8 Vgl. José Luis de la Fuente: La nueva narrativa hispanoamericana. Valladolid: Universidad de Valladolid 2005, 22–23. 9 Für eine Analyse des Romans vgl. Frank Leinen: «Lugar del crimen: México. La visión crítica de la sociedad mexicana moderna en la novela policíaca», in: Las modernidades de México. Espacios, procesos, trayectorias. Congreso anual de la Asociación Alemana de Investigación sobre América Latina. Hg. von Günther Maihold. México: Porrúa 2004, 517–538.

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und ist zugleich in ein sie konstituierendes Weltnetzwerk eingebunden. Daher kann die Globalisierung des Kriminalromans nicht lediglich eine gegenseitige Beeinflussung und Verflechtung von Gattungsmodellen bedeuten, wie sie im Zuge des Kulturkontaktes weltweit entstehen.10 Solche Transferprozesse sind zwar Erscheinungen der Globalisierung, doch handelt es sich bei ihnen im Grunde um nichts anderes als einen literarischen Internationalismus, der sich bis in frühe Phasen der Kolonialzeit zurückverfolgen lässt. Will man mit der Globalisierung einer Gattung also einen neuen Aspekt des bereits seit Jahrhunderten vorhandenen Transfers und der Verflechtung von Gattungen zur Sprache bringen, muss man mehr damit meinen als lediglich die mit der Globalisierung verbundenen Erscheinungen im Gattungsgefüge.11 Für eine dementsprechende Gattungsgeschichte heißt dies, dass sie auf detaillierte, unflexible Gattungsbestimmungen verzichten und stattdessen auf weiträumige, dehnbare Gattungsbegriffe zurückgreifen muss. Eine zentrale Voraussetzung für die Globalisierung einer Gattung ist zunächst, dass nicht nur ein geographischer Transfer stattfindet (denn dann ändert sich nur der reale Standort des Schreibens, ohne dass dieser Ortswechsel Konsequenzen für die Gattung hätte), sondern dass die Gattung selbst durch die geographische Ausbreitung in dem Sinne einem Wandel unterzogen wird, dass sie sich einem neuen politischen und kulturellen Kontext angleicht, ohne in diesem vollständig aufzugehen. Die Globalisierung setzt jedes Geschehen sofort in Beziehung zu allen anderen12 und schafft dadurch Bedingungen, um «Differenzen zu erkennen und anzuerkennen»13. Für die Literatur bedeutet dies, dass jeder literarische Text sofort in Beziehung zu allen anderen steht. Was nun aber die Globalisierung von einer bloßen Intertextualität abhebt, ist die Eigenschaft, dass der Text diese Tatsache der Vernetzung selbst reflektiert und dadurch Differenzen markiert. Die Globalisierung der Literatur bedeutet dann eine Selbstreflexion von Texten im Spiegel eines (literarischen) Weltnetzwerkes. Einige Knotenpunkte des globalen Gattungsnetzwerkes, in dem Bolaños 2666 steht und die der Roman selbst aufgreift, möchte ich im Folgenden kurz skizzieren, um dann die selbstreflexiven Verfahren des Textes im Hinblick auf seine Gattungszugehörigkeit aufzuzeigen: Durch das Spiel mit verschiedenen Elementen des Kriminalromans und deren komplexe Verschachtelung entsteht nicht nur ein Metadiskurs über diese Gattung, sondern eine beinahe zur Unkenntlichkeit führende Dekonstruktion, die die Spannungen, Brüche und Para-

10 Vgl. Horst Steinmetz: «Globalisierung und Literatur(geschichte)», in: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Hg. von Manfred Schmeling / Monika Schmidt-Emans / Kerst Walstra. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, 189–201, hier 191. 11 Vgl. Steinmetz: «Globalisierung und Literatur(geschichte)» (Anm. 10), 191. 12 Vgl. Steinmetz: «Globalisierung und Literatur(geschichte)» (Anm. 10), 192. 13 Steinmetz: «Globalisierung und Literatur(geschichte)» (Anm. 10), 193.

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doxa der sich in einem Zustand der Hybridisierung befindenden mexikanischen Kultur widerspiegelt. 2666 als Teil eines Weltnetzwerkes der Kriminalliteratur Einen wesentlichen Beitrag zur globalen Ausbreitung der Kriminalliteratur leistet Borges etwa ein Jahrhundert nach der Begründung der Gattung durch Edgar Allen Poe, nicht nur, um sie neu zu denken und um ihre Grenzen auszuloten, sondern um mit ihrer Hilfe die Möglichkeiten des Erzählens selbst zu erproben. Borges wiederum erhält eine Hommage durch Umberto Eco, der in Il nome della rosa grundlegende Elemente von La muerte y la brújula übernimmt und so dem lateinamerikanischen Kriminalroman internationale Resonanz verleiht. Darüber hinaus treiben die lateinamerikanischen Autoren selbst die Universalisierung der Gattung voran, indem sie teilweise Borges’ Spuren, teilweise aber auch nordamerikanischen Modellen folgen.14 Dies führt dazu, dass die novela policíaca in Lateinamerika vielfältige Spielarten hervorbringt. In Argentinien entwickeln Adolfo Bioy Casares, Silvina Ocampo, Rodolfo Walsh, Pablo de Santis und Guillermo Martínez (die letzteren beiden beeinflusst durch den englischen Campus-Krimi) die von Borges übernommene Tradition des relato de enigma fort, in den übrigen lateinamerikanischen Ländern knüpfen Autoren wie Paco Ignacio Taibo II, Mario Vargas Llosa, Ramón Díaz Eterovic, Santiago Gamboa, Leonardo Padura und Horacio Castellanos Moya als Vertreter der novela negra an die US-amerikanische hard-boiled-Tradition an. Diese transkulturelle und intertextuelle Zirkulation hat sich zum Identitätszeichen des Kriminalromans selbst entwickelt,15 so dass er, im alltagssprachlichen Sinn, als globales Genre schlechthin betrachtet werden kann. Bolaño nimmt mehrere Fäden dieses kriminalliterarischen Weltnetzwerkes auf. Mit La parte de los críticos schließt er an die argentinische Tradition des relato de enigma an, die sich in Werken wie dem bereits erwähnten Kriminalroman von Pablo de Santis Filosofía y Letras16 fortsetzt. In diesem Roman, der sich das Genre des academic thriller einverleibt, kämpfen drei Literaturkritiker um das letzte Wort bezüglich des mysteriösen Autors Homero Brocca, den sie niemals gesehen haben und von dem lediglich unzählige Versionen einer einzigen Kurzgeschichte existieren. Im Gegensatz zu 2666 besitzt Filosofía y letras, abgesehen von einer satirischen Funktion, den Unterhaltungswert, den Alfonso Reyes in den 40er-Jahren in seinen programmatischen Aufsätzen17 für die Kri14 Vgl. Hubert Pöppel: «Fuerzas centrífugas y centrípetas en Santiago Gamboa y Gonzalo España. La novela polcíaca colombiana en el contexto de la globalización», in: Revista Iberoamericana 231, 76 (2010), 359–376, hier 359. 15 Vgl. Pöppel «Fuerzas centrífugas y centrípetas» (Anm. 15), 359. 16 Pablo de Santis: Filosofía y Letras, Barcelona: Destino 1998. 17 Alfonso Reyes: Prosa y Poesía. Madrid: Cátedra 1975 u. Marginalia. Tercera Serie: 1940–1959. México: El Cerro de la Silla 1959.

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minalliteratur postulierte und den de Santis in einer ironischen Selbstreflexion zum Ausdruck bringt. So schlägt einer der beiden Detektive dem anderen nach dem Mord an der Literaturkritikerin Granados vor: «Tomemos algo fuerte y hablemos de crímenes para olvidar que la vida es triste.»18 Distanziert sich de Santis bereits von der therapeutischen Funktion der Kriminalliteratur, ohne sie jedoch zu verwerfen, so bleibt das psychologische Bedürfnis, sich selbst zu vergessen, bei der Lektüre von 2666 weitgehend ungestillt. Vielmehr behandelt der Roman mit der Internationalisierung und Omnipräsenz der Kriminalität im Norden Mexikos eines der ernstesten Probleme einer sich zunehmend fragmentarisierenden Gesellschaft, in der eine organisierte Konfliktregulierung durch die Hüter der staatlichen Ordnung versagt. Die Auseinandersetzung mit nationalen sozialen und politischen Problemen ist ein typisches Merkmal der, vor allem, mexikanischen Kriminalliteratur.19 Allerdings stellt Bolaño, der einen Teil seines Lebens in Mexiko verbrachte, diese Probleme in den Kontext eines globalen Netzwerkes, dessen Fäden im Norden Mexikos zusammenlaufen, und setzt sich so von der nationalen Orientierung eines Großteils mexikanischer Kriminalromane ab. Dieser internationale Blickwinkel der novela policíaca lässt sich in anderer Form bereits bei Ignacio Taibo II beobachten: Seine Kriminalromane sind übersät mit Epigraphen und Anspielungen auf Autoren und Figuren, die die westliche literarische und philosophische Welt repräsentieren. Taibo II schafft so einen Rahmen, in dem eine Selbstreflexion der Krimi-Tradition möglich wird: Parallel zur Ermittlung eines Verbrechens findet eine Ermittlung gegen die Kriminalliteratur statt.20 Bolaños Ziel hingegen ist nicht in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Gattung des Kriminalromans, vielmehr nimmt er die Reflexionen über dieses Genre zum Anlass, um gegen das literarische Schreiben selbst zu ermitteln.21 Bolaño schließt insofern an die neuere mexikanische Kriminalliteratur an, als er die zentralen Problemfelder einer hybridisierten mexikanischen Gegenwartskultur behandelt – mit einem bedeutenden Unterschied: Wird in der sogenannten nueva novela negra, auch wenn sie eine verloren gegangene gesellschaftliche Ratio nicht mehr investigativ wiederherstellen kann, immerhin noch nach einer Lösung gesucht,22 so wird sie bei Bolaño nicht einmal mehr ange18

de Santis: Filosofía y Letras (Anm. 17), 125. Vgl. Amelia S. Simpson: Detective Fiction from Latin America. London / Toronto: Associated University Presses 1990, 82. 20 Vgl. Simpson: Detective Fiction from Latin America (Anm. 19), 95–96. 21 Die Auseinandersetzung mit der kriminalen Ermittlung im Medium der Literatur besitzt nicht zuletzt eine biographische Komponente: So hat Bolaño selbst mehrfach erwähnt, «dass er viel lieber Kriminalpolizist als Schriftsteller gewesen wäre.» Pablo Valdivia Orozco: Weltenvielfalt. Eine romantheoretische Studie im Ausgang von Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño. Berlin: de Gruyter 2013, 466. 22 Vgl. Leinen: «Lugar del crimen» (Anm. 9). 19

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strebt. Bereits in den Kriminalromanen von Rafael Bernal, Vicente Leñero, Jorge Ibargüengoitia und Paco Ignacio Taibo II, um die wichtigsten mexikanischen Beispiele zu nennen, machen die herrschende Unordnung und die Zersplitterung der Welt eine Auflösung des Falls bzw. der Fälle nicht nur unmöglich, sondern lenken den Fokus weg vom Kriminalfall hin zu einer kontingenten Realität und zu den Möglichkeiten, diese darzustellen. Bolaño greift das Motiv der Suche nach der historischen Realität auf, führt sie aber ad absurdum, indem er immer wieder Deutungsverheißungen anbietet, um deren Erfüllung durch neue ungelöste Fragen zu ersetzen. Allerdings deutet er eine Antwort auf die Frage nach der historischen Wahrheit, im Falle von 2666 die Frage nach den Ursachen der Frauenmorde, auf der ästhetischen Ebene an: Indem er die Frauenleichen nicht nur in verschwenderischer Zahl, sondern auch mit verschwenderischer Detailfülle darstellt, performiert er auf der Erzählebene das, was er an anderer Stelle als Mordmotiv angibt: Die Frauenmorde sind, genauso wie das literarisch-künstlerische Schaffen, ein Akt der Verschwendung. Die Performanz der Verschwendung tritt also an die Stelle der Lösung des Falls. Anstatt zu einer Antwort auf die brisanten historischen Fragen, die der Roman ausstellt, zu kommen, summieren sich die Einzelfälle in einer Endlosschleife, die Ermittlungen laufen ins Unendliche. So können sich Bolaños Detektive (die Críticos, Sergio González und auch der Leser) in Santa Teresa lediglich asymptotisch an sowohl den Mörder als auch den Schriftsteller annähern («Archimboldi está aquí – dijo Pelletier –, y nosotros estamos aquí, y esto es lo más cerca que jamás estaremos de él», B 207)23, sie jedoch nicht fassen. Stattdessen stoßen sie, so glaubt eine der Figuren in La parte de Fate, auf das Geheimnis der Welt (B 439).24 Ermittlungen führen bei Bolaño nicht zur Auflösung von Fällen, sondern zu der Erkenntnis, dass der Welt ein Geheimnis innewohnt, das lediglich noch als Spur vorhanden und daher unzugänglich ist. Damit ruft Bolaño in 2666 eine Wirklichkeit auf, die als solche nicht zu fassen, sondern das Ergebnis einer Verschiebung ist. Verschiebung meint hier den Nachvollzug eines Verlustes von Fakten, der im literarischen Text jedoch nicht zur Absenz, sondern zu einem Exzess von Fakten führt.25 Die Realität – in diesem Fall die Frauenmorde in Ciudad Juárez – lässt sich nicht mimetisch erklären: Eine Lösung ist nicht einmal auf fiktionaler Ebene möglich, vielmehr muss die Literatur in einer Geste der exzessiven Beschreibung die Unmöglichkeit einer Schließung der Lebenswelt performieren. Zwar deutet Bolaño eine mögliche Deutung immer wieder an, so dass der Verdacht auf Unlösbarkeit beim Leser nicht zum Ab23

Roberto Bolaño: 2666. Barcelona: Anagrama 2004. Im Folgenden abgekürzt durch

B. 24 Vgl. auch Peter Elmore: «2666: La autoriá en el tiempo del límite», in: Bolaño salvaje. Hg. von Edmundo Paz Soldán / Gustavo Faverón Patriau. Barcelona: Ed. Candaya 2008, 259–292, hier 281. 25 Vgl. Valdivia Orozco: Weltenvielfalt (Anm. 21), 439.

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bruch der Lektüre führt, jedoch werden die Hermeneutikverheißungen nicht eingelöst, sondern verlieren sich in einer unendlichen Rekursion von neu zu lösenden Fällen. Die ästhetische Dynamik von 2666 besteht in der «inminencia de una revelación, que no se produce»26, wie Borges das Ästhetische generell beschreibt: In dem Moment, in dem sich eine Lösung abzuzeichnen scheint, wird das Bevorstehen dieser Offenbarung durch weitere Rätsel abgelöst. Auch die Frage, wie genau der Akt des Schreibens mit dem Akt des Verbrechens zusammenhängt, bleibt weitgehend ungeklärt. Bolaño schafft zwar durch die enigmatische Aura, die den Schriftsteller in 2666 umgibt, eine Analogie zwischen Autor und Mörder – bestärkt durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Benno von Archimboldi und dem vermeintlichen Serienmörder Klaus Haas – und damit zwischen dem erzählerischen Korpus und den Körpern der Opfer. Allerdings lässt er die Frage nach der Beziehung zwischen dem Subjekt und dem kriminellen bzw. schriftstellerischen Akt gewollt offen, indem er keinen Aufschluss über die Rolle von Klaus Haas in der Serie der Verbrechen gibt. Sein Roman weist lediglich auf den Ort hin, an dem die Antwort zu suchen ist: jenseits des Gesetzes. So wie sich der oder die Drahtzieher der Serienmorde in Santa Teresa den Hütern des Gesetzes entziehen, so dient das literarische Schreiben weder dazu, Gattungsgesetze zu erfüllen, noch dazu, diese bewusst zu hintergehen, wie es in zahlreichen Parodien des Kriminalromans geschehen ist. Der Akt des Schreibens im Zeitalter der Globalisierung unterliegt keinem Gesetz. Die Situierung der Verbrechen jenseits des Wirkungsgebietes des Gesetzes geht einher mit einem Schreiben jenseits von Gattungsgrenzen. Das Werk Bolaños artikuliert sich somit als transgénero27: Es schafft eine die Gattung transzendierende Bewegung, die den Kriminalroman in gleichem Maße negiert wie voraussetzt.28 Indem Bolaño die verschiedenen Diskurse des lateinamerikanischen Kriminalromans aufgreift, ohne dessen Gattungserwartungen erfüllen zu wollen, schafft er eine neue Spielart der Kriminalliteratur, die jedoch, da sie fern der Gattungsnormen des Genres liegt, ihrerseits wohl kaum mehr reproduziert werden kann. Die Hybridisierung der Gattung hat ein Maß erreicht, das ihre konstitutiven Bestandteile höchstens noch als Spuren erkennen lässt. Santa Teresa wird somit zum Ort der endgültigen Dekonstruktion des Kriminalromans, der sich als eine bereits hybridisierte Gattung in einem Kon26

Jorge L. Borges: Obras completas. Buenos Aires: Emecé 1999, Bd. II, 13. Ignacio Echevarría: «Bolaño extraterritorial», in: Bolaño salvaje. Hg. von Edmundo Paz Soldán / Gustavo Faverón Patriau. Barcelona: Ed. Candaya 2008, 431–445, hier 433. 28 Valdivia formuliert diese These der gattungsüberschreitenden Dynamik von Bolaños Werk hinsichtlich des Romans im allgemeinen. Vgl. Valdivia Orozco: Weltenvielfalt (Anm. 21), 492. 27

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text der nicht identifizierbaren Zuschreibungen bis zur Unkenntlichkeit zersetzt. Diese literarische Bewegung findet in Santa Teresa – und hier nimmt der Roman seine Beobachtungsposition hinsichtlich der Globalisierung ein – ihr Pendant in einer Dekonstruktion von Identitäten als Folge der Globalisierung. Zum einen werden in Santa Teresa die Identitäten unzähliger campesinas von Oaxaca und Sonora aufgehoben, die in der anonymen Masse der Arbeiterinnen in den maquiladoras verschwinden.29 Zum anderen werden durch den Kulturkontakt an der Grenze bereits hybride Identitäten mit weiteren Einflüssen gekreuzt, ein Beispiel wäre der Sheriff Harry Magaña (er selbst spricht seinen Namen ‹Macgana› aus), der Spanisch mit Akzent spricht und dessen Name bereits auf eine Verschmelzung latein- und US-amerikanischer Wurzeln hinweist. Im Vordergrund steht jedoch das Auslöschen von Identitäten in der Industrielandschaft einer globalisierten urbanen Wirtschaft, die in der Ermordung der häufig wenig oder gar nicht bekannten Frauen kulminiert. Nimmt man Bolaños Engführung vom Akt des Mordens mit dem Akt des Schreibens ernst, so können die verstümmelten Körper als Metapher für die Mutilation des Gattungssystems gelesen werden. Im Einklang mit dieser Dekonstruktion des literarischen Textkorpus wird auch das Werk Archimboldis als «una masa verbal informe y misteriosa» (B 113) beschrieben. Die «subversive Kapazität des Bösen»30 wirkt auf die Zusammensetzung der Geschichte bis hin zum Umsturz von Gattungsnormen.31 Wie diese Dekonstruktion des Kriminalromans, der einerseits zersetzt und zugleich vorausgesetzt wird, in 2666 ausgearbeitet ist, soll Gegenstand der folgenden exemplarischen Analysen sein. Gattungsreflexion und Dekonstruktion des Kriminalromans Die Selbstreflexion von 2666 hinsichtlich der Gattung des Kriminalromans findet hauptsächlich im Teil der Críticos statt, der als Metaerzählung zu La parte de los crímenes gelesen werden kann.32 In diesem führt die Suche nach einer Spur Archimboldis unsere Kritiker zum Artikel eines serbischen Professors, über den Bolaño einen Bezug zwischen seinem Roman und der novela negra herstellt. Als Quelle der Inspiration diente dem serbischen Autor der Text eines französischen Kritikers, in dem ein gewisser Marquardt von Sade präsentiert 29 Vgl. Stacey Balkan: «‹City of Clowns›: The City as a Performative Space in the Prose of Daniel Alarcón, Junot Díaz, and Roberto Bolaño», in: Wretched Refuge: Immigrants and Itinerants in the Postmodern. Hg. von Jessica Datema und Diane Krumrey. Newcastle upon Tyne, England: Cambridge Scholars 2010, 91. 30 Castillo Berchenko: «Roberto Bolaño et le genre policier» (Anm. 7), 152. 31 Vgl. Castillo Berchenko: «Roberto Bolaño et le genre policier» (Anm. 7), 152. 32 Aber auch in den anderen Teilen finden sich Referenzen auf die Kriminalliteratur. So bietet Fate seinem Redakteur an, ein relato policial über die Frauenmorde zu schreiben, und selbst in La parte de los crímenes gesteht der Journalist Sergio González im Gespräch mit einem Priester, dass Kriminalromane zu seiner Lieblingslektüre zählen.

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wird, dessen Name der Serbe durch denjenigen Benno von Archimboldis ersetzt. Der Artikel besteht in einer Nachforschung, die den Spuren Archimboldis von Deutschland ausgehend über verschiedene Länder nach Marokko folgt. Die Worte, mit denen der Artikel beschrieben wird, könnten auch auf Bolaños 2666 zutreffen: [Un] ejemplo de la literatura crítica ultraconcreta, una literatura no especulativa, sin ideas, sin afirmaciones ni negaciones, sin dudas, sin pretensiones de guía, ni a favor ni en contra, sólo un ojo que busca los elementos tangibles y no los juzga sino que los expone fríamente, arqueología del facsímil y por lo mismo arqueología de la fotocopiadora. (B 79)

Wie beim Artikel des serbischen Kritikers, so handelt es sich auch bei 2666 um das kritische Werk eines photographischen Realismus, der, ähnlich wie der Spiegel Stendhals, lediglich das zu zeigen beansprucht, was ihm die Wirklichkeit bietet. Allerdings wird die Faksimile- bzw. Fotokopiemetapher im Folgenden gebrochen: Bolaños Críticos kommen zu dem Schluss, dass die Nachforschungen des serbischen Autors nicht haltbar seien und dass Literaturkritik anders zu betreiben sei. Hay que hacer investigación, crítica literaria, ensayos de interpretación, panfletos divulgativos si así la ocasión lo requiriera, pero no este híbrido entre fantaciencia y novela negra inconclusa, dijo Espinosa, y Pelletier estuvo en todo de acuerdo con su amigo. (B 82)

Bolaño nimmt hier nicht nur eine ironische Engführung von Literaturkritik und novela negra vor, sondern führt eine Autoreflexion seines Romans hinsichtlich seiner Gattungszugehörigkeit durch. Er situiert ihn zwischen phantastischer Erzählung und unabgeschlossenem Kriminalroman, distanziert sich aber zugleich ironisch von dieser Einordnung. Indem Bolaño einen Vergleich zwischen einem wissenschaftlichen Text und der novela negra anstellt, postuliert er die Verwandtschaft der beiden Textsorten, grenzt sie aber zugleich voneinander ab. Dies ist insofern von Bedeutung, als Bolaño in seinem Roman selbst fiktionale und faktuale Textsorten wie Reportage und Essay vermischt.33 Was diesen Genres gemeinsam ist, ist das Element der investigación. Espinosa und Pelletier sprechen dem serbischen Kritiker ab, diese seriös zu betreiben, und beanspruchen damit für sich, in Bezug auf die Nachforschungen um Archimboldi den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Dass ihre Ermittlungen mit der Erkenntnis enden, dass man sich einer Lösung des Falls nur annähern kann, kann als Eingeständnis des Autors gelesen werden, der auch mit seiner fiktionalen Interpretation der Frauenmorde in Ciudad Juárez in den 90er-Jahren lediglich einen Beitrag zur Annäherung an den Fall leisten kann 33 Auch Sergio González Rodríguez etwa verbindet in seinem 2002 erschienenen Roman Huesos en el desierto literarische, historiographische und journalistische Textsorten, wobei er jedoch versucht, die Gattungserwartung des Kriminalromans zu erfüllen.

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und möchte. Das Überschreiten der Grenzen von Fakt und Fiktion wurzelt hier nicht nur in einer Experimentierfreude, wie sie die neuere Kriminalliteratur kennzeichnet, sondern verweist auf das Versagen jeden Versuchs – sei er fiktionaler oder faktualer Art –, eine fragmentarische, sich jeglichem hermeneutischen Verstehen entziehende Wirklichkeit zu erklären. Eine weitere Schiene der gattungstypologischen Selbstreflexion lässt sich, wie bereits angedeutet, über die Multiplikation der Ermittlungen, durch die Bolaño das Schema des traditionellen Kriminalromans ad absurdum führt, verfolgen. Das zentrale Rätsel von 2666, nämlich die Frage nach dem Verantwortlichen für die serialen Frauenmorde in Santa Teresa, spiegelt sich in einer Reihe von weiteren Rätseln, unter denen vor allem das Geheimnis um den Autor Benno von Archimboldi hervorsticht. Dieses wiederum dient als Prisma, welches das eine Rätsel um die Frauenmorde in unzählige weitere Rätsel bricht. Der Multiplikation der Rätsel wiederum entspricht eine Verschachtelung auf der Erzählebene. Da ist z.B. die Binnenerzählung der friesischen Witwe, die von einem schwäbischen Teilnehmer eines Kongresses zur zeitgenössischen deutschen Literatur in Amsterdam zum Besten gegeben wird. Es handelt sich um ein Rätsel, das sich der damals noch verheirateten Frau bei einer Argentinienreise gestellt hatte und das sie den Speisenden in einem Wirtshaus, darunter Archimboldi, in Begleitung des Schwaben, aufgibt. Es besteht in der Frage, warum die Gastgeber des friesischen Paares in Argentinien dafür gesorgt hatten, dass der Gatte drei Pferderennen gegen einen jungen Gaucho gewann, obwohl dieser ihm an Reittechnik überlegen war. Archimboldis Antwort lautet, dies sei eine Geste verschwenderischer Gastfreundschaft gewesen. Ausschlaggebend ist, dass Archimboldi nicht nur die Lösung des Rätsels nennt, sondern ein weiteres Rätsel aufwirft, das eine Anspielung – nicht von Archimboldi selbst, sondern durch den impliziten Erzähler – auf die Frauenmorde in Santa Teresa erkennen lässt: –Eso fue todo? –preguntó la señora. –Para el gauchito no. Yo creo que si llega usted a estar más rato con él, la hubiera matado, que a su vez también habría sido un acto de derroche, pero ciertamente no en la dirección que pretendía el dueño de la estancia y su hijo. (B 40)

In welcher Hinsicht der Mord an der Friesin für den Gaucho ein Akt der Verschwendung gewesen wäre, bleibt offen. Als der Schwabe Archimboldi zudem am nächsten Morgen in seiner Pension abholen möchte, ist Archimboldi verschwunden. Der Kontext der skizzierten Binnenerzählung verweist zunächst auf die globale Zirkulation von Texten, die durch einen mehrfachen Transfer durch verschiedene Münder und Länder – hier Argentinien, Deutschland und Amsterdam – verschlüsselt werden. Darüber hinaus lassen die geheimnisvolle Antwort und das darauffolgende rätselhafte Verschwinden Archimboldis im Hinblick auf die Frauenmorde zwei Aussagen zu: Zum einen weisen sie darauf hin, dass

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die Morde immer von einem Geheimnis umgeben bleiben werden. Zum anderen aber deutet Archimboldis Aussage einen möglichen Lösungsansatz hinsichtlich des zentralen Rätsels des Romans an: Die Frauenmorde in Santa Teresa und die ihnen vorangehenden unerklärlichen Verstümmelungen sind ein Akt der Verschwendung. Hiermit knüpft Bolaño, wie noch zu zeigen sein wird, an eine Ästhetik der Gabe an, wie sie Derrida in seiner berühmten FalschgeldStudie formuliert hat. Der Schlüssel zu dem Geheimnis um die Frauenmorde findet sich also bereits auf den ersten 50 Seiten des Romans und wird ausgerechnet durch den geheimnisvollen Archimboldi geäußert, der selbst, ähnlich wie der mysteriöse Frauenmörder, unauffindbar ist. An späterer Stelle wird dem Leser der Verdacht nahe gelegt, dass es sich bei dem Schwaben um Archimboldi selbst handelt, ein Gedanke, den die Kritiker aufgrund von körperlichen Differenzen zwischen dem gesuchten Autor und dem geheimnisvollen Schwaben verwerfen. Stellt der implizite Erzähler hier auch eine indirekte Verbindung zwischen Archimboldi und den Frauenmorden her, so werden die Details dieser Verbindung doch ungeklärt bleiben. Es wird zwar eine Fährte gelegt, die den Neffen Archimboldis, Klaus Haas, als für die Morde verantwortlich erscheinen lässt, doch löst sich auch diese Fährte auf, da das Morden nach der Verhaftung von Haas weitergeht. Das Rätsel wird in 2666 als Asymptote präsentiert, die sich einer Auflösung nur annähert und sich höchstens im Unendlichen mit ihr schneidet. Ein weiteres Rätsel, das im Rahmen der Suche nach Archimboldi aufgeworfen wird und das zugleich eine Vorausdeutung auf die Frauenmorde enthält, ist das Geheimnis um Nortons ehemaligen Liebhaber Pritchard, der Pelletier in einem «enigmático encuentro» (B 97) das Rätsel von der Medusa Liz Norton aufgibt. Die vermeintliche Lösung, die Pelletier und Espinoza am Telefon gemeinsam zu ermitteln suchen, lautet, dass Pritchard sich als ihr Mörder sehen muss und dass sie erst mit dem Tod Nortons deren Liebe, verkörpert durch das Pferd, das aus der ermordeten Medusa heraus steigt, erlangen werden. Ausgerechnet in der Zeit der Kandidatur Archimboldis für den Nobelpreis, legen Pelletier und Espinoza die Ermittlungen um den mysteriösen Autor auf Eis, um sich stattdessen mit dem Fall Pritchard zu beschäftigen. Sie bewegen sich durch London wie «detectives drogados» (B 98), die schließlich selbst zu Verbrechern werden: Nach einem Streit mit einem pakistanischen Taxifahrer, der damit endet, dass Pelletier und Espinoza den Taxifahrer zusammenschlagen, werden die Ermittlungen im Fall Pritchard durch einen weiteren Fall abgelöst. In diesem Fall gilt es nicht die Täter zu ermitteln – denn diese sind zugleich die Detektive –, sondern vielmehr die Beweggründe, die sie zu der Tat veranlasst haben. Schließlich schieben die beiden Detektive das Verbrechen auf die Irritationen, die Pritchard in ihnen verursacht hat. Der Fall Pelletier-Espinoza kann mithilfe eines anderen, ungelösten Falls abgeschlossen, nicht aber befriedigend erklärt werden.

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Acto de derroche: Bolaños 2666 und die Globalisierung des Kriminalromans

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Ein weiterer Strahl, den das Rätselprisma ‹Archimboldi› reflektiert, ist die Selbstverstümmelung des Londoner Künstlers, der seine eigene Hand, die er sich selbst abgehackt hat, in eines seiner Gemälde einarbeitet. Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich bei besagtem Gemälde um ein ‹autorretrato múltiple› handelt. Die Reflexion des Künstlers seiner eigenen Person kann hier als Hinweis auf die Selbstreflexion des Romans gelesen werden und damit als eine Meta-Metareflexion: Mithilfe des multiplen Selbstportraits des Selbstverstümmelers Edwin Johns reflektiert der Roman die Tatsache, dass er sich selbst reflektiert, ja dass er sich als Kriminalroman selbst dekonstruiert. Dies wird noch plausibler, wenn man mit einbezieht, dass der Versuch, das Geheimnis um Edwin Johns aufzuklären, wie auch der Fall Archimboldi, weitere Geheimnisse aufwirft, die nur teilweise gelüftet werden. So bleibt ungeklärt, in welchem Verhältnis Morini mit Edwin Johns steht. Der Leser erfährt nicht, warum Johns bei dem Besuch der Kritiker Pelletier und Espinoza die Hand gibt, nicht aber Morini. Auch bleibt offen, welche Antwort der Maler Morini ins Ohr flüstert, nachdem dieser ihn nach dem Grund seiner Selbstverstümmelung gefragt hat. Aufgelöst wird lediglich, dass Morini nach seinem geheimnisvollen Verschwinden in London weilte, nicht aber, was er zwei Tage lang dort tat, bevor er sich bei Liz Norton meldete. Norton kann lediglich von ihm in Erfahrung bringen, dass er als «lector de novelas policíacas» (B 130) zweimal das Wohnhaus Sherlock Holmes’ an der Baker Street besuchte. Dass er diese Straße als «fuera del tiempo o más allá del tiempo, amorosamente […] preservada en las páginas del doctor Watson» (B 130) sieht, lässt sich mühelos als Seitenhieb des Autors auf den Kriminalroman deuten, der auf diese Art und Weise als Gattung ohne Bezug zur aktuellen Realität gewertet wird und der ganz im Gegensatz zu Bolaños fotographischem Realismus steht. Dieser Gegensatz wird dadurch unterstrichen, dass unmittelbar nach der Sherlock-Holmes-Episode erzählt wird, wie sich Norton und Morini in die Wohnung der Engländerin begeben, wo Morini ihr ein Buch über Brunelleschi «con excelentes fotografías de fotógrafos de cuatro nacionalidades diferentes» (B 130) überrreicht. Auch hier wird wieder, wie schon beim Abschluss der Episode des serbischen ArchimboldiKritikers, das Verfahren der Interpretation betont («–Son interpretaciones – dijo Morini», B 131) und damit im Voraus implizit darauf verwiesen, dass die fotografieähnlichen Darstellungen der Frauenleichen in La parte de los crímenes nicht mehr als Interpretationen einer grausamen Wirklichkeit sind. Genauso sind die Ursachen der Morde selbst nur in Form von Interpretationen, nicht aber als Fakten verfügbar. Im Einklang mit dieser zwischen den Zeilen zu lesenden Aussage folgt der versteckte Hinweis auf einen weiteren möglichen Grund für die Morde an den Frauen. So offenbart Morini Liz Norton beim Abschied am Flughafen, dass er zu dem Schluss gekommen sei, Edwin Johns habe sich seine Hand für Geld abgehackt. «Porque creía en las inversiones, en el flujo de capital, quien no invierte no gana, esa clase de cosas.»

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(B 132) Liest man diese Passage, in der das Geheimnis um Edwin Johns teilweise aufgelöst wird, als weiteren Schlüssel zu den Motiven der Frauenmorde, so sind diese nichts anderes als die Folge eines weltweiten, schonungslose Opfer fordernden Kapitalflusses. Darüber hinaus führt die Erkenntnis Morinis einen Schritt weiter in den Ermittlungen gegen den literarischen Text. Das Rätsel der Selbstverstümmelung von Johns kann als mise en abyme der Frage nicht nur nach den Motiven des Serienmörders, sondern auch nach den Gründen für das literarische Schreiben betrachtet werden. Wurde dieses bisher als Akt der Verschwendung charakterisiert, so erscheint es hier finanziell bedingt. Bezieht man Bolaños Publikationspläne mit ein – sein Wunsch war es, seinen Roman in fünf gesonderten Bänden zu veröffentlichen, um das Einkommen seiner Kinder zu sichern –, so liegt nahe, dass das literarische Schreiben für Bolaño auch eine Existenzsicherung bedeutete. Ferner ist nicht auszuschließen, wenn dies auch Spekulation bleiben muss, dass er auch aus diesem Grund auf Elemente des populären Genres des Kriminalromans zurückgriff. Acto de derroche: 2666 und die Ästhetik der Gabe Die nun bereits mehrfach angedeutete Figur der Verschwendung, die in den vorhergehenden Überlegungen als Schlüssel zur Lektüre von 2666 erkannt wurde, lässt sich mithilfe einer Ästhetik der Gabe, wie sie Jacques Derrida in seiner Interpretation von Baudelaires Erzählung Das falsche Geldstück formuliert, näher bestimmen. Derrida zeigt unter Rückgriff auf Marcel Mauss’ ethnologische Studie Essai sur le don Dimensionen der Gabe auf, die Grundprinzipien der Ökonomie mit erzähltheoretischen Betrachtungen verbindet. Ausgangspunkt bildet der Zweifel an der Existenz der Gabe im Sinne einer von Aristoteles beschriebenen absoluten Gabe, die kein Zurückgeben erfordert. Diese existiert zumindest phänomenologisch gesehen nicht, da das Geben gefangen ist in einem Kreislauf von Gabe und Gegengabe, von Schuld und Wiedergutmachung, sei diese auch nur in Form von Dank. Daher muss jede Gabe notwendigerweise als Trug erscheinen: Sie gibt vor, bedingungs- und grundlos zu sein, kann sich jedoch dem Zwang der Wechselseitigkeit und Rückbezüglichkeit nicht entziehen. Daher liegt die Möglichkeit der Gabe, genauso wie die Möglichkeit, die Gabe (wie auch die Dinge generell) zu benennen, nach Derrida jenseits der «linguistischen oder logozentrischen Geschlossenheit des Textes»34. Ähnlich wie Derrida die Frage nach der Möglichkeit der Gabe und deren Beschreibung stellt, erprobt Bolaño in 2666 die Möglichkeit, historische Wirklichkeit darzustellen, und stößt dabei auf das Unvermögen des Textes, das Faktum zu benennen. Die historische Realität erscheint hier als etwas ‹Gegebenes›, das sich jedoch nicht fassen lässt. Die Realität, wie auch die Gabe, ist lediglich 34

Jacques Derrida: Falschgeld: Zeit geben I. München: Fink 1993, 109.

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als Spur nachvollziehbar, die sich jeglicher Präsenz entzieht. Diese Unverfügbarkeit des Bezugssystems, auf das der Text rekurriert, hat Auswirkungen auf die Interaktion zwischen Leser und Autor, die ja ihrerseits einen Tausch im Sinne eines Pakts der Großherzigkeit darstellt, in dem der Leser dem Autor einen Vertrauensvorschuss gewährt. Lektüre wird zum «Glaubensakt, ein Phänomen von Kredit und Vertrauen», wodurch der Text «etwas Wesentliches über das sagt, was […] die Literatur an die Glaubwürdigkeit bindet, an den Kredit und folglich ans Kapital, an die Ökonomie und auch an die Politik»35. Die Dialektik von Geben und Nehmen, die der Gabe inhärent ist, artikuliert sich in 2666 auf narratologischer Ebene in den Deutungsversprechen durch den Erzähler, der mit der einen Hand zurückzieht, was er mit der anderen gibt. Die Referenz auf eine mögliche Lösung ist ein Simulakrum, das sich auflöst, sobald es greifbar zu werden scheint. Somit erweist sich das Sinnangebot durch den Erzähler als Trug, oder, wie Derrida es im Hinblick auf Baudelaire formuliert, als Falschgeld. Dennoch wird der Leser nicht getäuscht oder betrogen, vielmehr wird ihm die «Erfahrung eines Geheimnisses ohne Tiefe, eines Geheimnisses ohne Geheimnis»36 zuteil. Das Geheimnis der Welt, auf das in La parte de Fate angespielt wird, ist demnach lediglich eine Spur, die einen Verlust oder Entzug anzeigt, nicht aber das Verlorene selbst enthält. Die Unlösbarkeit des Kriminalfalls wird zum Symbol für ein Weltgeheimnis, das lediglich eine Annäherung zulässt und zu dem auch der literarische Text nur einen begrenzten Zugang besitzt. Dieses Geheimnis verweist auf die Möglichkeit des Unmöglichen: Die Unmöglichkeit, historische Realität zu fassen, wirft einen ästhetischen Mehrgewinn ab, der in der Verschwendung besteht. Bolaño selbst thematisiert diesen Aspekt in seinem Aufsatz Un narrador en la intimidad: «De hecho, la literatura es una larga lucha de redundancia en redundancia, hasta la redundancia final… »37. Dem Kontext des Zitats lässt sich entnehmen, dass mit Redundanz eine Kette gemeint ist, in der sich die Literatur beständig neu reproduziert: Sie ist nichts anderes als eine réécriture vorhandener Texte, ohne etwas Neues zu schaffen, weshalb es, nach Bolaño, natürlicher ist zu lesen als zu schreiben. Doch gerade durch die exzessive Produktion von Redundanzen eröffnet Bolaño eine neue ästhetische Dimension, die sich als Ästhetik der Verschwendung bezeichnen lässt. Auf den ersten Blick scheint auch dieses Verfahren als Gemeinplatz des Barocks lediglich Bestehendes aufzugreifen. Tatsächlich wird auch bei Bolaño «[d]as Surplus der Produktion […] nicht weiter produktiv investiert»38. Doch wird die Verschwendung hier nicht wie in der Kultur des 35

Derrida: Falschgeld (Anm. 34), 129. Derrida: Falschgeld (Anm. 34), 126. 37 Zit. in Valdivia Orozco: Weltenvielfalt (Anm. 21), 322. 38 Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Bd.1. Freiburg / Basel / Wien: Herder 2006, 946. 36

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Barocks für eine Zurschaustellung, etwa von Fakten, funktionalisiert, sondern stellt ein erneutes Sinnangebot dar, das jedoch wieder nur eine asymptotische Annäherung an die Wirklichkeit ermöglicht. Damit reiht sich die Verschwendung selbst in eine beliebig fortsetzbare Kette von Redundanzen ein. Erst durch die überbordende Maßlosigkeit wird die Gabe möglich, denn sobald sie sich ab- oder eingrenzen würde, würde sie zum Gegenstand von Berechnung und Wiederaneignung. Daher ist die Gabe, wenn es sie denn gibt, «stets ohne Rand»39. Diesen Befund reflektiert Bolaños 2666 (wie auch Baudelaires Das falsche Geldstück) auf verschiedenen Ebenen. So verschwimmen in der Grenzstadt Santa Teresa sowohl die Ränder von Nationalstaaten als auch diejenigen von Identitäten. Im Einklang mit diesem inhaltlichen Aspekt lösen sich die Ränder des Textes auf: 2666 ist kein in sich geschlossenes Ganzes, sondern, wie das ganze Werk Bolaños40, fragmentarisch strukturiert. Daher müssen notgedrungen auch die Gattungsränder nachgeben: Bolaño ist weder bemüht, bestimmte Gattungserwartungen, wie etwa diejenigen des Kriminalromans zu erfüllen, noch eine neue (Unter-)Gattung zu schaffen. Stattdessen optiert er für eine Performanz der Verschwendung (von Fakten, von gattungsspezifischen Motiven) als dem Ergebnis einer sich ständig fortsetzenden Globalisierung und damit Hybridisierung einer Gattung, deren ursprüngliche Elemente nur noch als Spuren erkennbar sind. Die Gattungsgrenzen verlieren sich in einer willkürlichen Nachahmung, nicht von Wirklichkeit, sondern von Diskursen über die Wirklichkeit, so dass sich der Text «zu entziehen, sich zu teilen oder zu vervielfältigen, zu delinearisieren»41 scheint. Die Ökonomie des Tausches und der Gabe entgrenzt sich zu einem Akt der Verschwendung, der das literarische Schreiben zwar jenseits von wirtschaftlichen Interessen und Ökonomien des Schreibens (Gattungserwartungen, Kanon etc.) situiert, diese jedoch zugleich mit impliziert.

39 40 41

Derrida: Falschgeld (Anm. 34), 122. Vgl. Valdivia Orozco: Weltenvielfalt (Anm. 21), 439. Derrida: Falschgeld (Anm. 34), 121/122.

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