Der Nachthimmel über Berlin in den 1960ern: Zwei obskure Kulturgeschichten Obwohl die Nacht über dem ehemaligen Ost- und Westberlin tatsächlich nahezu identisch war, sorgten ideologische sowie kulturelle Spaltungen für ihre unterschiedliche Konnotationen. Die Berliner Mauer, insgeheim über Nacht erbaut, teilte die Kulturgeschichte der Berliner Nacht symbolisch in zwei. Wie wurden die zwei Nachtgeschichten in den Massmedien der 1960er konstruiert und welche Implikationen für die urbane Topographie können abgeleitet werden? Im Vortrag wird eine komparative Analyse der visuellen sowie texuellen Repräsentationen unternommen, um die Spuren der beiden Geschichten nachzuzeichnen. Als Hauptquellen dienen zwei lokale Zeitungen – die Berliner Zeitung für das Gebiet Ostberlins und die Berliner Morgenpost für den westlichen Teil der Stadt. Durch die Auswahl der Quellen wird die Bedeutung der Populärkultur, beziehungsweise der Massmedien, in der (Re)produktion von Repräsentationen besonders betont. Untersucht wurde Material aus Monaten in den 1960ern, die globale oder lokale, politische oder kulturelle Bedeutung im zeitgenössischen Verständnis der Dekade haben, aber auch aus ein paar zufällig ausgewählten Monaten, die für Randomisierung sorgen. Das Anliegen ist dabei, die Schlüsselereignisse latent präsent zu machen, aber sie nicht unbedingt explizit zu thematisieren. Der prominenteste Monat ist August 1961, als der Mauerbau stattfand. Weitere politische Ereignisse werden mit Juni 1963 (JFKs Besuch in Westberlin und seiner Kultspruch „ich bin ein Berliner“) sowie Mai 1968 und den studentischen Protesten betrachtet. Popkulturelle Phänomene sind weiterhin die weltweite Explosion der Beatlesmania (März 1964) und The Rolling Stones Konzert in Westberlin, wobei es zum Konflikt zwischen Fans und Polizei kam (September 1965). Die kontrakulturellen Strömungen werden zusätzlich durch den „sommer of love“ repräsentiert (Juli 1967). Die Repräsentationen von Nacht werden durch vier heterogene Aspekte betrachtet: der Bezug zur Arbeit und seinem Gegenpol, der Muße oder Ruhe, die Funktion der Nacht bei der Konstruktion von Feindbildern, der Anteil von Finsternis und Nachtmetaphern in Utopien und schließlich die Rolle der Nacht in Spektakularisierung und Sensationalismus. Letztendlich werden die Diskurse am konkreten Beispiel (Mauerbau) verglichen.
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Arbeit vs. Muße, Ruhe Robert Liebscher schreibt in seiner Studie Wohnen für alle: Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus folgendes: „Die arbeitende Bevölkerung gab den Takt des Lebensrhytmus vor. Sammelten sich am Morgen die Mütter vorm Haus, um ihre Kinder in den Kindergarten zu bringen, so waren am Abend gegen 22 Uhr in fast allen Plattenbausiedlungen die Lichter aus.“ (S. 97) Daraus folgend gehört der Arbeitstag aus sozialistischer Perspektive in den produktiven, optimisitschen und durchaus positiven Bereich des Tageslichtes (oft mit der Symbolik der Sonne zugespitzt), während die Nacht oft als Stillstand und Ruhe konstruiert wird. Dazu gibt es eine wesentliche Ausnahme: die Arbeit, die über Nacht erledigt sein muss. Der Artikel „Abenteuer im Schloßpark“ (BZ, 27/7/1967, S. 8) fängt idyllisch an: „Es ist kurz nach Mitternacht. Der Schloßpark in Niederschönhausen liegt still und verlassen in mildem Mondlicht. Wie Scherenschnitte heben sich die dunklen Kronen der mächtigen Bäume vom Himmel ab.“ Der Schlosspark in Niederschönhausen wird aber bald zum „Tatort“ transformiert, wobei die erzählerische Perspektive der Volkspolizei übernommen wird. Der Plot fängt mit einem Verdacht an: „Mitunter versammeln sich Jugendliche in den dunklen Winkeln und treiben Unfug. Minderjährige Ausreißer bevorzugen besonders in der warmen Jahreszeit eine Parkbank als Schlummerlager“. Eine suspekte Person wurde gefragt „Was suchen Sie nachts im Schlosspark?“, was impliziert, dass der Parkaufenthalt nachts Erläuterungen, Rechtfertigungen fordert. Am Ende des Artikels kommt triviale, humoristisch-optimistische Lösung hervor: es war ein Imker, der die Biene unbedingt nachts transportieren muss - eine Arbeit, die nicht warten kann. Eine ähnliche Fabulierung in der Linie von der ruhigen Idylle zur nötigen und ehrenswerten Arbeit ist auch im Artikel über den Hafen in Gdynia, Polen zu finden: „Aber die Nacht ist hier nicht gleichbedeutend mit Stille, mit Arbeitsruhe. Unter den riesigen Portalkränen, die im grellen Weiß der Scheinwerfer in die Ladeluken der Frachter aus aller Welt greifen, herrscht pausenlos rege Betriebsamkeit.“ Die Arbeitsgier kennzeichnet ebenso das Foto mit einer kurzen Beschreibung vom Moskauer internationalen Flughafen - Flugzeuge starten Tag und Nacht - pausenlos. Muße Wenn Muße in Ostberlin positiv konnotiert wird, bezieht sie sich ausnahmslos auf die vom Staat organisierten Feste und Umzüge. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Abend“ lieber als Nacht benutzt. Muße muss immer mit Engagement und dem Staat in 2
Verbundung gesetzt werden. Bespielsweise, der Fackelzug der Ostberliner Jugend in Friedrichshain, der in der BZ „Demonstration“ genannt wurde (BZ, 2/7/1967, S. 8), wird anlässlich der Wahlen organisiert und als Propagandamittel benutzt. Die üblichen Signifikanten des sorgfreien sommernächtlichen Zusammenfindens - Lagerfeuer, Boote und herumlümmelnde Jugendliche -werden nicht als absolute Muße dargestellt, sondern werden in einem politischen Rahmen positioniert. Während die Muße in Ostberlin als Gegenpol zum Arbeitstag konstruiert und hedonistisch aufgeladen wird, ist in Ostberlin die Freizeit und besonders die sonst suspekte Nacht mit staatsbezogenen Aktivitäten ausgefüllt. Im Westberlin am Anfang der 1960er war die bürgerliche Feier die typische Repräsentation von Muße, von Festbällen bis zu privaten Feiern, die eher Familien oder Ehepaare organisierten. Das repräsentierte Nachtleben endete um Mitternacht. In der BM wird vom Abschlussball eines Tanzkurses berichtet, die Muße wird als „festliche unbeschwerte Stunden“ beschrieben, die Abwesenheit jener Art von Arbeit und Engagement stark betont. Erst Mitte 1960er, mit dem Durchbruch der Jugendkulturen und internationalen Rock-Stars wie The Beatles und The Rolling Stones wird das Nachtleben zur Domäne der Jugend. Die BM behält in diesem Zusammenhang die Perspektive der Erwachsenen, die etwa skeptisch das sog. „youthquake“ Phänomen betrachten. Obwohl die erzählerische Instanz die Jugendkultur oft missbiligt und unterschätzt , sind dazu Nachrichten in der Zeitung zu finden, was in Ostberlin nicht der Fall war. Während die Rolling Stones Mania mit Interesse beobachtet und stark spektakularisiert war, wurden besonders die Kontrakulturen angegriffen. Im Artikel unter dem Titel „Auf altem Papier ist gut ruhen“ (BM, 4/9/1965, S. 4) wird von einer Nachtrazzia in Kreuzberg berichtet, die die Vertreibung von Hausbesetzer_innen zum Ziel hatte. „Ihre Durst ist größer als der Wunsch nach einem eigenen Dach über dem Kopf. Sie heißen in der Amtssprache Obdachlose und schlafen mietefrei in Ruinen und geräumten Häusern, unter Bänken und Büschen. Bei einer Razzia störte die Polizei allein in Kreuzberg den Schlaf von einem Dutzend dieser ‚Stadtstreicher‘!“ Das Arbeiter- und Migrantenstadtviertel am Rand Westberlins, das sich in den nächsten Dekaden zum Zentrum der künstlerischen und aktivistischen Szene entwickelte, wird schon in den 1960ern als abweichend, deviant dargestellt. Der Berichtstil der BM unterscheidet sich nicht wesentlich von der BZ, die auch über Nachtabenteuer der Polizei schrieb. Beide Zeitungen berichten über die Ereignisse aus der polizeilichen Perspektive, wobei die Verdächtigten nicht zu Wort 3
kommen. Im obengenannten Beispiel ist die moralistische Verurteilung der Arbeitslosigkeit besonders auffällig. Da die Obdachlose keine Verdienste haben, dürfen sie auch nicht ruhig schlafen.
Feindbild in der DDR wird Nacht oft als historisch belastet, verbunden mit NS-Regime dargestellt. Die Doku Nacht und Nebel, „ein Dokumentenwerk, das vor der faschistischen Gefahr warnt“ (tschechoslowakische Autoren) (BZ, 30/1/1960) sowie das Foto des NSFackelzuges durchs Brandenburger Tor am 30. Januar 1933 exemplifizieren dieses Vorgehen. Das letztgenannte Beispiel arbeitet mit übernommenen historischen Materialien und reinterpretiert, negiert sie, durch die Nutzung des X-Zeichens. Die Nacht wird zum zusätzlichen Faktor, die zu einer unheimlichen Atmosphäre beiträgt. Die DDR suggerierte immer wieder, dass das NS-Regime noch immer einen starken Einfluß auf die BRD ausübt. Der Feind aus dem Westen wird auch durch die Verbrechen und Unfälle in Westdeutschland (mit dem Schwerpunkt auf Westberlin) konstruiert. Ein typisches Szenario der Dämonisierung vom Gegner ist der Artikel „Verbrechen im Plänterwald“ (BZ, 2/8/1961), in dem zwei Westberliner als Täter auftreten, eine Westberlinerin die Opferrolle übernimmt und ein Ostberliner als ihr Retter und folglich Held eingeführt wird. Das nachtsüber stattgefandene Ereignis wird durch die Unkontrolliertheit der Westberliner Jugend erklärt, die sich Gangsterfilme ansieht. Im Bericht „Böse Silvester-Bilanz“ (BZ, 3/1/1960) werden Verbrechen im Westen besonders ausführlich angeführt, Verkehrsunfälle, Selbstmord und Schlägerei einschließend. Ein vergleichbarer Bericht über Vorkommnisse in der DDR ist ausgeblieben. Dadurch wurde der Gegner kriminalisiert und als deviant dargestellt. Jugenddeliquenz wird besonders nach dem Mauerbau betont (BZ, 17/8/1961). FrontstadtRowdies haben in der Nacht einen S-Bahn-Wagen demoliert. Das Verbrechen wird dadurch zum Spezifikum „des Anderen“, beziehungsweise des Westen, dargestellt. Zwei weitere verbreitete Feindbilder waren Grenzgänger (Menschen, die vor dem Mauerbau im Westen arbeiteten) im Osten vs. Menschenjäger im Westen (die staatlichen Organe, die den Grenzübergang nach dem Mauerbau verhindern).
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In der DDR im Sommer 1961 fand eine intensive Kampagne gegen sie statt. Die in der BZ veröffentlichte Zeichnung weist auf ein schlechtes Gewissen der Grenzgänger hin: Sie können nicht schlafen, wie aufrechte Arbeiter_innen es tun sollen. In Westberlin wird der Wachdienst an der Mauer entlang, sog. „Menschenjäger“, konstant antagonisiert und dehumanisiert. Schon am 15. August 1961 wird das Foto eines Wächters veröffentlicht, mit der Bildunterschrift: „‘Sozialistischer Aufbau’: Der eiserne Vorhang wurde verstärkt“. Sein verkrampftes, unangenehmes Gesicht sowie die etwas klaustrophobische, vorwiegend diagonal organisierte Komposition, die alle Objekte in einem engen Kader komprimiert, sorgt für den Effekt der Unruhe und der dunkle Hintergrund, der auf eine Nachtszene hinweisen könnte, verstärkt das allgemeine Gefühl der Unheimlichkeit. Der Staat wird in seinem Beamten verkörpert. Utopie In der DDR wird die antithetische Rethorik (Finsternis vs. Licht) besonders beliebt. Sozialismus wird in diesem Zusammenhang als Morgendämmerung verstanden. In der BZ 9/7/1967, im Text „Zeitenwende“ wird dieser Kontrast auf folgende Weise formuliert: „Unsere Zeitrechnung beginnt mit dem Jahr Null. Die Zeitwende in der Menschheitsgeschichte aber beginnt mit dem Jahr 1917. ‚Aurora‘ donnerte Salut, Glockengeläut für eine neue Ära; der Mensch trat heraus aus dem Dunkel der Vorgeschichte in das helle Licht seiner Zeit.“ Zu dem Text begleitend erscheint ein Foto, das die Faszination mit Technik, genauer gesagt, die fortgeschrittene Elektrifizierung des sowjetischen Dorfes, darstellt. Die Aufklärung bekommt hier wortwörtliche visuelle Begleitung. Eine der führenden Nachtrepräsentationen von Westberlin ist eng mit Autos verbunden. Der Besitz eines PKWs hat sich in den 1960ern aus Luxus in Alltag transformiert. Die blühende deutsche Autoindustrie warb reichlich in der Tagespresse. Gleichzeitig werden die Verkehrsunfälle, besonders diejenigen, die sich nachts unter Alkoholeinfluß ereigneten, zum immer größeren Problem. In diesem Zusammenhang ist der Text „Eine ruhige Nacht“ der BM exemplarisch, in dem folgendes steht: „Erfreulich ist die Mitteilung, daß es in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend, in der ‚gefährlichsten Nacht der Woche‘, nur wenige Unfälle durch Trunkenheit am Steuer gab. Die Berliner Morgenpost hatte zu besonders großer Besonnenheit aufgerufen, da es am Freitag Lohn und Gehalt gab und dieser Tag erfahrungsgemäß sehr turbulent sei.“ Da das beschriebene Ereignis als positive
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Ausnahme gefeiert wird, lässt sich feststellen, dass der Zusammenhang Nacht-AlkoholAuto schon weit verbreitet war. Die Autos wurden als Topos der Modernität und Wohlstands in fast alle Stadtsansichten eingebunden. Deren Lichter tragen zur Spektakularisierung der Nachtvisuren bei, aber wurden auch als wichtig für die Sicherheit erkannt. Im Artikel „Parade der Glühwürmchen“ schneidet die Berliner Morgenpost das Thema an, aber gleichzeitig wird mit dem Begriff „Parade“ der visuelle Wert konnotiert. Dieser Mechanismus war auch in der DDR verbreitet, obwohl wesentlich weniger DDR-Bürger_innen in den 1960ern ein eigenes Auto besaßen. Spektakel Aspekte - visuelle Spektakularisierung (Stadtansichten und Sehenswürdigkeiten in der Nacht), Sensationalismus (Mord, Mysterium) In beiden Stadtteilen wird ab und zu die impressionistische Tradition aufgegriffen und Nachtvisuren der Stadt romantisch durch Licht- und Schattenspiel dargestellt. Während die BM meistens die mondänen Destinationen unter das Rampenlicht stellt, nimmt die BZ die Beispiele aus der DDR oder anderer Ostblock-Staaten. Die BM berichtet im Text „Schönheit im Flutlicht“ (1/3/1964) über „den geheimnisvollen Zauber des nächtlich leuchtenden Paris“. Die ausgewählten Sehenswürdigkeiten - Pariser Oper, Eiffelturm, Place de la Concorde - werden erst durch das Licht, beziehungsweise durch eine künstliche Beleuchtung mit Scheinwerfern, ihre „besondere Schönheit“ zeigen. Diese visuelle Strategie - die Dematerialisierung und neue Interpretation der Bauobjekte durch Lichteffekte - ist tief im impressionistischen Schaffen und Denken verwurzelt. Daneben wird das künstliche, von Menschen geschaffene Licht als Merkmal der modernen Stadt zelebriert. Solche „Aufklärung“ und „Beleuchtung“ Berlins fing schon im 19. Jh. an und lässt sich vor allem im Lesser Urys Gemälden beobachten. Seine Stadtansichten haben die Modernität und den Zauber der Metropole im Entstehen konstruiert und haben die visuelle Identität der Stadt weiterhin beeinflusst und modelliert. Die visuelle Spektakularisierung Berlins findet vor allem in Ostberlin statt - beispielsweise über Architekturfotografie der Objekte, die in der DDR gebaut wurden, die als Zelebrieren der neuen Architektur verstanden werden kann. Da die Berliner Highlight-Sehenswürdigkeiten (Museumsinsel, Berliner Dom usw.) Teil von Ostberlin waren, war es in Westberlin in der Regel nicht möglich, auf die
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wohlbekannten Bauten und Strukturen zuzugreifen. Demgegenüber hat sich Kurfürstendamm - das neue Zentrum Westberlins - als sehenswürdig entpuppt. Das Motiv des Feuerwerkes war in Westberliner Zeitung eine besonders beliebte Repräsentation von Nacht, die künstliche, von Menschen erschaffene Spektakularität. Sogar die Ereignisse der Natur werden durch dieses Prisma interpretiert. Das Foto der Eruption eines Vulkans auf Hawaii kann hier genannt werden. Die Palmen, der Sternhimmel und ein starker Kontrast zwischen dem Nachthimmel sorgen für Bildhaftigkeit, die visuelle Qualität der Szene steht im ersten Plan, erst danach kommt das undifferenzierte Schrecken. Das Foto ist nur mit einer kurzen Bildunterschrift begleitet die visuelle Botschaft ist entscheidend. Der spektakuläre, feuerwerksähnliche Aspekt wird im Text explizit formuliert: „Ein Feuerwerk, das von Menschenhand gemacht sein könnte, erleuchtete den nächtlichen Himmel über Hawaii.“ (BM, 19/1/1960, S. 10) Die Folgen und Opfer werden ausgelassen. Der in den Mordberichten auffällige Sensationalismus der BM ist tief im Tabloidendiskurs verwurzelt. Die Rolle der Nacht in diesem Zusammenhang wird mithilfe des Artikels „Die Mordnacht in Sharons Haus“ (BM, 7/12/1969) analysiert. Eine sog. „Hippie-Bande“ hat den Hollywood-Star in ihrem Haus in Los Angeles umgebracht, worüber die BM in mehreren Artikeln berichtete. Der ausgewählte Artikel fügt hinzu: „Die Mordnacht im Hause der Sharon Tate war noch weitaus grausamer und gespenstischer, als bisher bekannt wurde.“ Die Nacht ist in diesem Fall nicht nur eine der statistischen Eckdaten der Mordumstände, sondern trägt zur Erschaffung der unheimlichen, „gespenstigen“ Atmosphäre bei. Die Wiedererzählung der Geschichte, diesmal noch schrecklicher, mit neuen „schokierenderen“ Informationen, lässt sich durch die Mechanismen der Tabloidpresse erklären, vor allem durch den unersättlichen Hunger nach pikanten Details und dem Versuch der „Aufwärmung“ der Nachricht und Verlängerung ihrer Dauer. Die Nacht funktioniert in diesem Zusammenhang als Signifikant der Unheimlichkeit und des Mysteriums und lässt sich locker an die Tradition des gotischen Romans anknüpfen, eines popkulturellen Genres, welches auch mit Horror, Sensationalismus und Sehnsucht nach dem Devianten und Verbrecherischen aufgeladen ist.
Mauerbau DDR - BZ am 14. August 1961 : „Die Regierung der DDR hat gehandelt. In der Nacht zum Sonntag sind an den Grenzen Westberlins Kontrollmaßnahmen eingeführt worden, die der 7
Wühltätigkeit aus der Frontstadt den Weg verlegen werden. (…) Jetzt ist an der Grenze eine Ordnung hergestellt, die den Menschenhändlern und Grenzgängern das Handwerk legt. Kurz nach Mitternacht wurden die beschlossenen Maßnahmen schlagartig durchgeführt.“ Die insgeheime Erbauung der Mauer, die nachtsüber stattfand, wurde vor allem als effiziente Arbeit konstruiert. Durch die Ausgrenzung wird eine manichäische Klarheit verschaffen. Das kontrastierende Prinzip, sowie Normalisierung werden auch im Rest des Artikels geprägt. Unter dem Titel „Der Sonntag in Berlin“ wird die Situation auf folgende Weise dargestellt: „Berlin lag an diesem Sonntag in den frühen Morgenstunden in strahlendem Sonneschein. Ein gewöhnlicher Sommersonntag begann.“ Die Sonne ist in diesem Zusammenhang stark symbolisch aufgeladen und verweist auf die utopische Bedeutungsschicht der staatlichen Ideologie: Sozialismus als Morgendämmerung, Licht und ein neuer Anfang. Ein vergleichbares Sentiment steckt auch in der DDR-Hymne hinter Versen: „Denn es muß uns doch gelingen, / Daß die Sonne schön wie nie / Über Deutschland scheint.“ Die Mauerbau wird in der BM als Alarmsignal betrachtet, im Gegenteil zu normalisierenden Anstrengungen der DDR. Die in der ersten Ausgabe nach der Mauerbau veröffentlichte satirische Zeichnung (BM, 15/8/1961, S. 2) stellt West- und Ostberlin gegenüber. Während Ostberlin mit Panzern, Kanal, Überwachungsturmen und Stacheldraht umgeben ist, wird Westberlin als freie Landstück dargestellt. Im Text wird zusätzlich die Referenz explizit erwähnt: Ostberlin wird metaphorisch 89als KZ identifiziert. Der Himmel über Ostberlin ist auffällig schwarz und bildet die drohende Opposition zur weißen Fläche über Westberlin: die schwarze Fläche scheint sich in Richtung Westberlins zu bewegen. In diesem Bild werden Distanz, aber auch die unvermeidbare Nähe von West- und Ostberlins visualisiert. Schließlich, Vorstellungen von Nacht sind keine neutralen, natürlichen Entitäten, sondern sind oftmals stark mit ideologischen und kulturellen Bedeutungen verflochten, was die Berliner Situation in den 1960ern besonders untermauert. Die Symbolik der Nacht in der West- und Ostberliner Tagespresse in den 1960ern schwankt zwischen Unheimlichkeit und Idylle, Feindlichkeit und fleißiger Arbeit. Die Großstadt wird anhand dieser Repräsentationen ständig neu aufbereitet und noch heute üben diese Nachtszenen einen großen Einfluss auf das visuelle Gedächtnis und die Identität der Stadt Berlins aus.
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Report "88. Kunsthistorischer Studierendenkongress, Trier, 4-7/6/2015: \"Der Nachthimmel über Berlin in den 1960ern: Zwei obskure Kulturgeschichten\" "