Der kulturelle Umbruch mit dem Homo sapiens seit etwa 40.000 Jahren ist nirgends so gut dokumentiert wie in der süddeutschen Kleinkunst des Aurignacien. Einige der berühmten Elfenbeinobjekte werden erklärt und ihre Herstellungsweise rekonstruiert. Auch zu den nachfolgenden Epochen der Altsteinzeit sind Exponate von Weltrang vereint, wie aus Dolní Věstonice und Předmostí, dem Schamanengrab von Brno oder der Pekárna-Höhle, aus Laugerie-Haute und Gönnersdorf. Einige der Kunstwerke werden erstmals in qualitätvollen Farbabbildungen gezeigt.
MENSCHEN DER EISZEIT
Die Ausstellung „Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler“ im Erlanger Stadtmuseum 2008 zeigt hochkarätige Exponate aus dem reichen Themenspektrum der Altsteinzeit Mitteleuropas. Dabei steht der Zeitraum im Fokus, ab dem Menschen der Art Homo neanderthalensis sich ganz bewusst für das Leben in der Kälte der gemäßigten Breiten entschieden haben. Wichtige Fundstellen der Neandertaler aus Bayern werden von den Experten selbst vorgestellt, viele Fachbegriffe der Archäologie werden allgemeinverständlich erläutert.
Leif Steguweit (Hrsg.)
MENSCHEN DER EISZEIT JÄGER HANDWERKER KÜNSTLER
Die Ausstellung wird gefördert von:
Ausstellung:
Beratung und Koordination: Thomas Engelhardt
Leif Steguweit (Hrsg.)
Menschen der Eiszeit
Projektleitung: Dr. Christian Züchner, Dr. Leif Steguweit Ausstellungsgestaltung:
Jäger – Handwerker – Künstler
Claus Theuerkauf
Begleitband: Redaktion:
Dr. Leif Steguweit Gestaltung, Satz: Praehistorika Verlag und Stefanie Beckert Druck und Bindung: Print Com oHG, Tennenlohe Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie,
des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom 17.02. – 20.04.2008 in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Erlangen
selbst verantwortlich.
tigung einschließlich photomechanischer
Begleitband zur Austellung
Der Begleitband wird gefördert von: Ernst-von-Siemens Kunststiftung Universitätsbund Erlangen-Nürnberg e.V.
Ein herzlicher Dank geht an folgende Leihgeber:
Grußwort des Oberbürgermeisters von Erlangen
Archäologische Staatssammlung München
Mit der Ausstellung „Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler“ hat das Erlanger Stadtmuseum eine hochkarätige Präsentation in unsere Stadt geholt, die faszinierende Einblicke in die frühe Menschheitsgeschichte gestattet. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, erstmals in Deutschland Kunstwerke der Altsteinzeit aus dem Mährischen Museum in Brünn (Tschechische Republik) zu zeigen, die Weltrang besitzen.
Archäotechnik Wulf Hein Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Dienststelle Nürnberg Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Abt. Archäologische Denkmalpflege, Amt Koblenz Moravské zemské muzeum, Anthropos Institut Naturhistorische Gesellschaft Nürnberg e.V., Abteilung für Vorgeschichte Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim Ulmer Museum, Archäologische Sammlung Lehrmittel Dieter Luksch Heimatmuseum Höchstadt a. d. Aisch
Besonders seit der äußerst erfolgreichen Universitätsausstellung „Ausgepackt“ im letzten Jahr sind die Sinne aller Verantwortlichen für die Tatsache geschärft, welche Schätze die Sammlungen der Friedrich-Alexander-Universität selbst beherbergen. Die fast einhundertjährige Sammlung der Ur- und Frühgeschichte ist eines der Juwelen dieser Bestände, angereichert bis in die Gegenwart durch neue Funde und Schenkungen aus der Region. Dies ist den Stadtvätern Ansporn und Verpflichtung, auf eine Lösung hinzuarbeiten, die als Vision eines „Wissenschaftsmuseums“ dauerhaft dafür Sorge tragen kann, dass die Öffentlichkeit an diesem reichen universitären Erbe teilhaben kann. Ich bin zuversichtlich, dass die Ausstellung – auch dank der engagierten museumspädagogischen Arbeit des Museums – die Erlanger Bürger und gerade junge Menschen erreichen wird. Darüber wünsche ich ihr die verdiente Resonanz über die Region hinaus. Die Stadt Erlangen begrüßt alle Gäste, die in unsere Stadt kommen, um diese gelungene Sonderausstellung zur Archäologie des Eiszeitalters zu besichtigen. Erlangen, im Januar 2008 Dr. Siegfried Balleis
Grußwort des Direktors des Mährischen Landesmuseums in Brno (Tschechische Republik)
Grußwort des Rektors der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Als Heimstatt einiger der berühmtesten Fundobjekte der jüngeren Altsteinzeit freuen wir uns, mit ausgewählten Exponaten an der Ausstellung „Menschen der Eiszeit“ in Erlangen teilnehmen zu können. Viele dieser Kleinkunstobjekte werden erstmals in Deutschland gezeigt und werden sicher durch ihre Schönheit die Herzen der Betrachter für die gemeinsame europäische Urgeschichte erobern.
In der ungewöhnlich erfolgreichen Ausstellung „Ausgepackt“ haben sich im vergangenen Jahr die vielen und dabei höchst unterschiedlichen Sammlungen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erstmals gemeinsam in einer umfassenden Gesamtschau und in ihrer beeindruckenden Vielfalt der Öffentlichkeit präsentiert. Daran anknüpfend bietet nun – etwa ein halbes Jahr später – die Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung unserer Universität unter dem Titel „Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler“ in einer eigenen, thematisch eingegrenzten Sonderausstellung einen erweiterten und differenzierteren Zugang zu ihren reichen Beständen. Dabei werden zum einen bedeutende und einmalige universitätseigene Objekte aus der in nahezu 100 Jahren gewachsenen Sammlung zur steinzeitlichen Kulturgeschichte des Menschen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert. Zum anderen verdeutlicht diese Ausstellung das besondere Profil des Erlanger Instituts für Ur- und Frühgeschichte, das als einzige universitäre Einrichtung in Bayern seit langem auf die Erforschung der frühesten Menschheitsgeschichte und deren archäologische Hinterlassenschaften, d.h. auf die Archäologie des Eiszeitalters und der Steinzeit ausgerichtet ist. Zugleich wird, leicht erkennbar an den vielen bedeutenden Leihgaben zu dieser Ausstellung, die erfreulich enge und gute Vernetzung des Erlanger Instituts mit nationalen und internationalen Forschungseinrichtungen deutlich. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in diesem Katalog: Wissenschaftler aus den leihgebenden Institutionen sind an ihm ebenso beteiligt wie die urgeschichtlichen Archäologen aus Erlangen und der Region.
Neben der Wirkung für die Öffentlichkeit ist es uns eine Genugtuung, als Teil der Zusammenschau paläolithischer Kleinkunst zugleich einen Höhepunkt der während der Ausstellungszeit stattfindenden 50. Jahrestagung der Hugo Obermaier-Gesellschaft für die Erforschung des Eiszeitalters und der Steinzeit bereitzustellen. Ende März 2008 wird dieses international bedeutende Treffen für die Archäologie des Eiszeitalters im Erlanger Schloss stattfinden und weit über einhundert Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ländern Mitteleuropas zusammenführen. Hier zeigt sich auch die langjährige Verbundenheit des Anthropos-Instituts am Mährischen Landesmuseum Brno mit dem Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Erlangen, das seit der Gründung der Gesellschaft zugleich ihre Geschäftsstelle innehat. Archäologen beider Einrichtungen stehen seit Jahrzehnten in Kontakt, und auch die Anbahnung des Ausstellungsprojektes sowie des gemeinsamen Katalogs beruht auf guten kollegialen Beziehungen. Wir wünschen der Ausstellung einen erfolgreichen Verlauf und grüßen die Teilnehmer des zeitgleich stattfindenden Kongresses! Brno, im Januar 2008 Ph. Dr. Petr Šuleř
Das Erlanger Institut für Ur- und Frühgeschichte, das im Zuge seiner langjährigen Forschungsprojekte die fossilen Reste mehrerer „bayerischer“ Neandertaler sowie Tausende ihrer Werkzeuge ausgegraben und für die Sammlung der Universität gewonnen hat, wird damit für die nächsten Wochen weit über die Universität und Erlangen hinaus im Lichte der Öffentlichkeit stehen. Die Leitung der Universität wünscht der Ausstellung den gebührenden Publikumserfolg! Erlangen, im Januar 2008 Prof. Dr. Karl-Dieter Grüske
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Inhaltsverzeichnis Leif Steguweit & Christian Züchner (Erlangen) Vorwort Christian Züchner (Erlangen) Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler
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Karin Kurz (Nürnberg) Komplexe Darstellungen auf Kleinkunstwerken des Magdalénien
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Rainer Bücking (Erlangen) Die Technik der Elfenbeinbearbeitung im Wandel der Jahrtausende
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Christian Züchner (Erlangen) Die altsteinzeitlichen Funde in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg
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Andreas Dirian (Erlangen) Die „Sammlung Neischl“ der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg e.V.
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Kleines Glossar zur Archäologie des Eiszeitalters
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Abbildungsnachweis
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Autorenverzeichnis
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Leif Steguweit (Erlangen) Menschen der Eiszeit: Die Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
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Kurt Wehrberger (Ulm) Der Löwenmensch aus dem Lonetal bei Ulm
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Wulf Hein (Frankfurt) Elfenbein und Feuerstein: Zur Herstellung einer Replik des Pferdchens vom Vogelherd mit authentischen Werkzeugen
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Martin Oliva (Brno) Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
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Martina Lázničková-Galetová (Brno) Die Magdalenienkunst in Mähren
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Überschrift
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Vorwort Stereotype über die Menschen der Eiszeit begegnen uns in Medien und Filmen fast täglich. Nur zu gern wird darin das Klischee bedient, Menschen der Altsteinzeit wären primitive, spärlich bekleidete Wilde, die nur mit Mühe im täglichen Kampf ums Überleben bestehen konnten. So wie die Kindheit des Individuums eine Phase des unwissenden Tastens und allmählichen Erkennens ist, wird in die älteste Phase der Menschheitsgeschichte der Gedanke einer Kindheitsphase unserer Gattung projiziert. Unter dieser Prämisse muss ein Großteil der hier gezeigten Exponate – viele davon zum ersten Mal im Original in Deutschland zu sehen – für beträchtliche Überraschung sorgen. Ein Schwerpunkt des Gedankenkonzepts wurde ganz bewusst auf den Titel „Menschen der EISZEIT“ im engeren Sinne dieser klimageschichtlichen Epoche ausgerichtet. Wenngleich bereits eine Reihe von Ausstellungen die gesamte Menschheitsgeschichte seit ihren Wurzeln in Afrika vor rund 4-5 Millionen Jahren thematisiert hat, schien uns Ausstellungsplanern dieser Aspekt – nämlich der Zeitpunkt, ab dem Menschen sich ganz bewusst für ein Leben in der Kälte der gemäßigten Breiten entschieden haben – ein bislang wenig beachteter Aspekt der Anthropogenese. Denn obwohl Menschen bereits vor mindestens 1,8 Millionen Jahren in verschiedene Regionen des eurasischen Kontinents vordrangen und sich erfolgreich als Jäger und Sammler behaupteten, war das erste Arrangement mit der Kälte ein Schritt, der weit mehr „Courage“ erforderte, als das in allen vorherigen warmen Klimaabschnitten europäischer Siedlungsepisoden von Urmenschen der Fall gewesen war. Seit diesem Zeitpunkt aber – der nach derzeitigem Stand vor 300.000 Jahren in der Frühphase der vorletzten Eiszeit gelegen hat, waren Menschen der Art Homo neanderthalensis im besten Sinne an ihre Umwelt angepasst, da diese Anpassung nur durch ihren Verstand und ihre kulturellen Fähigkeiten zu leisten war. Bereits die Neandertaler begannen damit, auffällige Fossilen und Mineralien zu sammeln. Unsere unmittelbaren, als Cro-Magnon-Menschen bezeichneten Vorfahren, waren vor 35.000 Jahren die ersten Maler, Zeichner und Bildhauer in Europa. Diese Kunst stellt keine tastenden Versuche dar, sondern besitzt eine eigene Ästhetik, die ein Stilverständnis des Betonens und Weglassens von bestimmten Details in nahezu modernem Sinne voraussetzt. Der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel, der dank des Ulmer Museums in einer hochwertigen Kopie gezeigt werden kann, ist Ausdruck dieser frühesten Phase europäischen Kunstschaffens durch Homo sapiens. Wulf Hein dokumentiert als Archäotechniker, welchen Arbeitsaufwand selbst die Herstellung einer kleinen Kopie des etwa zeitgleichen Elfenbeinpferdchens vom Vogelherd erfordert. Einen wahren Boom an Kleinkunst erlebte Europa zur Zeit des Gravettiens und Magdaléniens. Aus dieser Phase der jüngeren Altsteinzeit kann, durch Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen des Mährischen Landesmuseums in Brünn, erstmals in Deutschland eine umfangreiche Kollektion von Originalen mährischer Fundstellen gezeigt werden. Es ist eine große Freude und Ehre, im Stadtmuseum Erlangen zwanzig der berühmtesten Kleinkunstwerke aus diesen Fundstellen präsentieren zu können. Zugleich spiegelt sich im Vertrauen des Mährischen Landesmuseums die langjährige Zusammenarbeit zwischen Brünner und Erlanger Paläolithforschern wider. So ist es kein Zufall,
dass der Ausgräber von Dolní Věstonice, Dozent Dr. Bohuslav Klíma, bereits in den 60-er Jahren, zur Zeit der politischen Öffnung der damaligen Tschechoslowakei zum Westen, als Assistent am Erlanger Institut für Ur- und Frühgeschichte tätig war. Gute Kontakte wurden über Jahrzehnte gepflegt und können nun zu diesem gemeinsamen Ausstellungsprojekt führen. Das Stadtmuseum hat sich hierbei als professioneller und kompetenter Partner erwiesen. Zuallererst ist hier dem Museumsleiter, Herrn Thomas Engelhardt zu danken, der unser Projekt von Anfang an enthusiastisch und mit geschärften Sinnen in hervorragend produktiver Weise begleitet hat. Wir danken auch seinem Team, vor allem Herrn Claus Theuerkauf für die Vitrinengestaltung, sowie der museumspädagogischen Arbeitsgruppe um Christine Brehm und Lars Hochreuther. Für das schöne Plakat und damit die Vorlage für den Einband des Kataloges danken wir sehr herzlich Herrn Peter Hörndl, Fa. Nashornstudio/ Grafik & Design in Erlangen. Einen großen Anteil am Gelingen des Katalogs in kürzester Herstellungszeit hat Herr Sven Feldmann, Fa. Praehistorika. Unser Dank gilt den Sponsoren, die unser Projekt großzügig gefördert haben: der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Staedtler Stiftung, der Luise-Prell-Stiftung und der Alfred-Vinzl-Stiftung. Der Ernst von Siemens Kunststiftung sowie dem Universitätsbund Erlangen-Nürnberg e.V. ist die großzügige Unterstützung bei der Herstellung dieses Kataloges zu verdanken, wodurch mit den – oft erstmals in dieser Qualität präsentierten – Abbildungen ein bleibender Wert für die Öffentlichkeit geschaffen werden konnte. Nicht zuletzt dürfen wir einen Dank im eigenen Institut aussprechen, der sich an unsere engagierten Studierenden im Förderverein der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung e.V. richtet. Die mit der „Vorzeitkiste“ angebotene Zusammenstellung museums- und kinderpädagogischer Programme zur Archäologie, zunächst mehrere Jahre in Eigenregie durchgeführt, hat nun endlich eine öffentliche Plattform erhalten. Zugleich laden wir interessierte Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt und der Region dazu ein, Mitglieder des Fördervereins zu werden und damit der ur- und frühgeschichtlichen Universitätssammlung zu einem festen Status im Kulturleben Erlangens zu verhelfen. Leif Steguweit Christian Züchner
Förderverein der Institut für Ur- und Frühgeschichte
Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung
der Universität Erlangen-Nürnberg
der Universität Erlangen-Nürnberg e.V.
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Menschen der Eiszeit Jäger – Handwerker – Künstler Christian Züchner (Erlangen)
Jäger – Handwerker – Künstler? Eine notwendige Klarstellung Im Zeitalter der Gleichberechtigung und der Gender-Forschung muss der Titel der Ausstellung anachronistisch erscheinen und Kritik herausfordern. Hätte er nicht korrekterweise „JägerInnen – HandwerkerInnen – KünstlerInnen lauten sollen? Natürlich kann jede Frau, jeder Mann und jedes Kind in einer Gesellschaft diese Funktionen übernehmen, sofern die Kräfte dafür ausreichen. Vermutlich wird man auch in irgendeiner archaischen Gesellschaft Belege für diese Annahme finden. In unserem Zusammenhang werden die Begriffe als geschlechtsneutrale Charakteristika der Menschen der Eiszeit verwendet. Bei Aussagen zu kulturellen und sozialen Verhältnissen in der Altsteinzeit muss man sich stets die Quellenlage vor Augen halten, auf der unsere Aussagen beruhen. Die Quellen sind Steingeräte des Alt- und Mittelpaläolithikums.
stumme Zeugnisse der Vergangenheit: Stein- und Knochengeräte, Bildwerke an den Wänden von Höhlen oder auf Waffen und Werkzeugen. Nur sehr selten erlauben Gräber oder besondere Fundumstände einen verschwommenen Blick in die soziokulturellen Gegebenheiten jener fernen Zeiten. Der Archäologe ordnet diese stummen Zeugen der Vergangenheit und versucht, sie kulturgeschichtlich auszudeuten. Das Ergebnis seiner Bemühungen kann der komplexen Wirklichkeit früher Kulturen niemals gerecht werden. Immer fließen persönliche Kenntnisse und Lebenserfahrungen in die Interpretation ein. Jede Generation entwickelt ihre eigene Vorstellung von der Vergangenheit, in der sich immer archäologische Fakten und der jeweils gültige Zeitgeist zu einem scheinbar schlüssigen und objektiven Gesamtbild vereinen. Der Mensch der Eiszeit muss das
ertragen, er kann sich nicht mehr dazu äußern. Das Eiszeitalter Vor rund 2,6 Mio. Jahren wurde das Klima auf der Erde zunehmend kälter und die Vereisung der Polkappen setzte ein. In den Auswirkungen auf die Umwelt gab es natürlich große regionale Unterschiede. Allerdings war es während des Eiszeitalters, des Pleistozäns, nicht ständig kalt und die Erde von Gletschern bedeckt. Bedingt durch Unregelmäßigkeiten der Erdbahn um die Sonne wechselten sich unterschiedlich lange kalte und warme Perioden ab. Die Kaltzeiten werden als Glaziale bezeichnet, die warmen Phasen dazwischen als Interglaziale. Auch innerhalb der Kaltzeiten gab es immer wieder kurze, wärmere Perioden, die „Interstadiale“. Detaillierte Untersuchungen, vor allem in den Ablagerungen der Meere und Bohrungen im Gletschereis Grönlands,
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Ch. Züchner, Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler
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Vor 12.000 Jahren endete die letzte Eiszeit. Wir leben in einem Interglazial, das wahrscheinlich in eine neue Eiszeit übergehen wird.
Abb. 1: Eiszeitlandschaft in Nordnorwegen.
haben gezeigt, dass es während des jüngsten Glazials, der Würmoder Weichseleiszeit, eine schnelle Folge von kälteren, wärmeren, trockeneren oder feuchteren Perioden gegeben hat, denen sich Mensch und Tier anpassen mussten. In den Glazialen bedeckten die Gletscher große Teile der Erde. In ihnen war so viel Wasser gebunden, dass der Meeresspiegel bis zu 140 m absank. Dadurch fiel z. B. die Nordsee trocken und England war zu Fuß zu erreichen. In den Interglazialen stiegen die Temperaturen auf heutiges Niveau an. Die Gletscher schmolzen zum großen Teil ab und der Meeresspiegel stieg an, so dass weite Küstenbereiche wieder überschwemmt wurden.
Die Tierwelt der Eiszeitjäger Das raue Klima führte zum Verschwinden aller Wärme liebenden Tiere aus Mitteleuropa. Stattdessen lebten hier Arten, die an Kälte und offenen Landschaften angepasst waren. Am bekanntesten sind Mammut, Rentier (Abb. 2), Wisent, Pferd und Steinbock. Daneben gab es viele andere Arten: Höhlenbär, Höhlenlöwe, Vielfraß, Wollhaariges Nashorn, Schneehase, Lemming, Schneehuhn, Eule, Rabe, Lachs, um nur einige zu nennen. In wärmeren Gegenden wurden Auerochse, Hirsch, Reh, ja sogar das Heupferd und Käfer nachgewiesen. Mit Ausnahme extrem trockener Gebiete überzog eine dichte Vegetationsdecke aus unterschiedlichsten Kräutern und Sträuchern die Landschaft. Lichte Wälder aus Kiefern und Birken standen an geschützten Standorten. Die Eiszeitjäger nutzten alle geeigneten Ressourcen zum Lebensunterhalt. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt jedoch nur wenigen Tierarten, die sie an den Höhlenwänden und auf ihren Werkzeugen
aus Elfenbein, Geweih und Knochen abbildeten. Die Hauptstufen der Menschheitsentwicklung Die Entwicklung der Menschen ist sehr komplex, in vielen Einzelheiten noch ungeklärt und wird kontrovers diskutiert. Ihre Wurzeln lassen sich in Afrika mindestens 6 Mio. Jahre zurückverfolgen. Vor 4,5 – 2 Mio. Jahren lebte in Ostafrika Australopithecus, der „Südaffe“. Fußspuren in Laetoli (Tansania) bezeugen, dass er bereits vor rund 3,6 Mio. Jahren aufrecht ging. Vor 2,5 Mio. Jahren folgten in Ostafrika mit Homo habilis („Fähiger Mensch“) die ersten echten Menschen. Vor rund 1,8 Mio. Jahren verließen Homo erectus und verwandte Arten Ostafrika und breiteten sich über Afrika und Eurasien aus. Die früheste Menschen im westlichen Eurasien wurden in Dmanisi, Georgien (1,8 Mio.) und in Atapuerca, Spanien (1,1 Mio.) nachgewiesen. Mit einem Alter von rund 500.000 Jahren ist Homo heidelbergensis der älteste Menschenfund in Deutschland. Er wurde 1907 in Mauer bei Heidelberg entdeckt. Er gilt als der Vorfahre des Neandertalers, der Europa im Mittelpaläolithikum für rund 200.000 Jahren besiedelte.
Zur gleichen Zeit entwickelte sich in Afrika Homo sapiens, unser direkter Vorfahre. Vor 40.000 Jahren wanderte er über den Vorderen Orient in Europa ein und löste den Neandertaler ab. In welcher Form das geschah, ist bis heute umstritten. Es gilt heute aber als sicher, dass Neandertaler und Homo sapiens mehrere Jahrtausende nebeneinander in Europa gelebt haben. Die Altsteinzeit – Das Paläolithikum Die Altsteinzeit, das Paläolithikum (griechisch: palaios = alt, lithos = Stein), ist die älteste und zugleich längste Periode der Menschheitsgeschichte und umfasst alle Jäger- und Sammlerkulturen der Eiszeit. Das Paläolithikum begann vor rund 2,5 Mio. Jahren mit der Produktion der ersten genormten Steingeräte und ging vor 12.000 Jahren mit der Eiszeit zu Ende. Man unterscheidet drei große Abschnitte: Das Alt-, Mittel- und Jungpaläolithikum. Auf das Spätpaläolithikum (Azilien) und das nacheiszeitliche Mesolithikum soll hier nicht eingegangen werden, obwohl die Menschen weiterhin ein Leben als Jäger und Sammler geführt haben, bis um 5500 v. Chr. in Mitteleuropa Ackerbau und Viehzucht Eingang fanden.
Abb. 2: Rentiere in Nordnorwegen.
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Ch. Züchner, Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler
Abb. 3: Altertümlicher Faustkeil. Manzanarestal bei Madrid (Spanien). Altpaläolithikum. Ca. 400.000 v. Chr. (Länge ca. 16 cm).
Abb. 4: Blick aus der Klausenhöhle bei Neuessing. Wohnplatz im jüngeren Magdalénien. Ca. 11.000 v. Chr.
Im Laufe des Altpaläolithikums, in der Zeit von ca. 2,5 Mio. – 200.000 Jahren, entwickelten sich die ersten Menschenformen, die zunächst einfache, aber genormte Steinwerkzeuge aus Flussgeröllen und später ab etwa 1,6 Mio. Jahren Faustkeile herstellten (Abb. 3). Das Mittelpaläolithikum, vor ca. 200.000 – 40.000 Jahren, war in Europa das große Zeitalter der Neandertaler. Sie ergänzten den alten Werkzeugbestand durch neue Geräte, die sie aus Abschlägen fertigten. Im Jungpaläolithikum, vor ca. 40.000 – 12.000 Jahren, eroberten unsere eigenen Vorfahren von Afrika aus die ganze Welt. Mit neuen Technologien für Waffen und Werkzeuge, Kunst und Religion schufen sie die Grundlagen für das moderne Denken und Handeln. Menschen der Eiszeit: Höhlenmenschen? Die Vorstellung ist weit verbreitet, die Menschen hätten in Höhlen gehaust (Abb. 4). Tatsächlich hat man in Frankreich in einigen, wenigen Höhlen in absoluter Dunkelheit Siedlungsreste gefunden. Die meisten Funde wurden jedoch in Grotten oder unter Felsüberhängen („Abris“) geborgen. Diese Abris
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sind für die Forschung wichtig, weil sie im Lauf der Jahrtausende immer wieder aufgesucht wurden und die Abfolge der übereinander liegenden Fundschichten einen Einblick in die Entwicklung der Kulturen gibt. Im Allgemeinen haben die Menschen aber wohl im Freiland in Zelten gewohnt. Man nimmt an, dass es dauerhafte Basislager mit festen Bauten und kurzfristige Jagdlager mit leichten Konstruktionen gegeben hat. Häufig genügte wohl auch ein einfacher Windschirm als Schutz vor der Kälte, wie man das aus Grönland kennt. Von den Zelten haben sich nur die Grundrisse, die Feuerstellen und Abfallgruben erhalten. Über die aufgehende Konstruktion weiß man wenig. In Osteuropa errichtete man gelegentlich aus Unterkiefern und Stoßzähnen des Mammuts das tragende Gerüst für ein Dach aus Tierfellen. Normalerweise bestanden die Zelte aber sicherlich aus einem Gerüst aus leichtem Stangenholz und einem Dach aus Tierhäuten. Jäger der Eiszeit In populären Darstellungen begegnet man häufig der Vorstellung, die Jäger seien – ob Neandertaler oder moderne Menschen – in der Eiszeit
mit Faustkeil und Keule und nur spärlich bekleidet auf Großwildjagd gegangen. Das stimmt natürlich nicht. Schon früh benutzte man spezielle Waffen und Jagdstrategien. Die ältesten Holzspeere aus Clacton-on-Sea (England), Schöningen und Lehringen (Niedersachsen) stammen aus dem Alt- und Mittelpaläolithikum und haben ein Alter von bis zu 400.000 Jahren. Im Jungpaläolithikum wurden neue, bessere Waffen und Jagdtechniken entwickelt. Hölzerne Speere und Wurfpfeile erhielten Spitzen aus Knochen und Geweih, für den Fischfang verwendete man Harpunen mit Widerhaken (Abb. 5). Der Bogen scheint in Mittel- und Westeuropa, mit Ausnahme vielleicht der Iberischen Halbinsel, unbekannt gewesen zu sein. Um Geschwindigkeit und Durchschlagskraft der Geschosse zu erhöhen, benutzte man Speerschleudern, die häufig mit Tierfiguren und Gravierungen verziert waren. Die Verwendung von Fallen und Jagdzäunen kann man nach einigen bildlichen Darstellungen immerhin vermuten. Eine Reihe von Gravierungen auf Knochenstücken scheint zu belegen, dass es bereits im Jungpaläolithikum bestimmte Jagdrituale in Form von prozessionsartigen Zügen und
Festen gegeben hat. Jagdunfälle sind mehrfach durch Verletzungen an den Knochen und durch Abbildungen belegt. Dabei ist hervorzuheben, dass sogar schon die Neandertaler schwerste Verletzungen überlebt haben. Die Gemeinschaft hat diese Menschen offensichtlich nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, sondern so lange gepflegt, bis die Knochenbrüche wieder verheilt waren. Frauen der Eiszeit In traditionellen Gesellschaften übernehmen Frauen das Hauswesen und das Sammeln von Nahrungsmitteln. Sie können auch im religiösen Bereich, etwa als Schamaninnen, eine herausragende Rolle spielen. Diese Tätigkeiten hinterlassen kaum greifbaren Spuren. Aussagen über die Rolle und die Stellung der Frau im Paläolithikum sind daher subjektiv und stark vom jeweiligen Zeitgeist geprägt. Als einzige zeitgenössische Quelle vermittelt die jungpaläolithische Kunst konkrete Erkenntnisse zu diesem Thema, auch wenn die Rolle der Frau hier all zu sehr aus der Sicht des Mannes betrachtet zu sein scheint. Es gibt praktisch keine Darstellungen von Leben und Wirken der Frauen. Dennoch ermöglichen zahlreiche
Abb. 5: Harpunen aus Geweih. LaugerieHaute (Dordogne, Frankreich). Jüngeres Magdalénien. Ca. 11.000 v. Chr. (Länge ca. 13 cm).
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Ch. Züchner, Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler
Abb. 6: Frau mit einem Horn in der Hand. Laussel (Dordogne, Frankreich). Kopie des im Krieg verloren gegangenen Originals. Gravettien. Ca. 23.000 v. Chr.
Statuetten, Reliefs (Abb. 6) und Gravierungen Rückschlüsse darauf, welche Eigenschaften in der jungpaläolithischen Gesellschaft bevorzugt wahrgenommen worden sind. Im Aurignacien symbolisieren kreisförmige Vulven, die zum Teil an die Trittsiegel von Pferden erinnern, den Schoß und die Rundung des Leibes, also die Zeichen weiblicher Fruchtbarkeit. Im Gravettien steht mit den Venusstatuetten die pralle Weiblichkeit reifer Frauen und
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Mütter im Vordergrund. Ein Relief aus Laussel (Dordogne, Frankreich) stellt sehr wahrscheinlich sogar die Geburt eines Kindes dar. Schamdreieck und Vulva als Zeichen sexueller Obsessionen spielen kaum eine Rolle, ebenso wenig, wie die konkrete Person. Denn mit Ausnahme der Elfenbeinköpfchen von Dolní Věstonice, Brassempouy und Menton gibt es im Gravettien fast keine Wiedergabe der Gesichtszüge. Im mittleren Magdalénien tritt ein vollkommener Paradigmenwechsel ein. Man betont jetzt vor allem die Sexualität jüngerer Frauen. Das Schamdreieck tritt überdeutlich aus dem schlanken Körper hervor, Kopf, Brüste und andere Details werden dagegen vernachlässigt oder ganz weggelassen. Im späten Magdalénien wendet sich das Interesse jungen Mädchen zu, die wohl gerade an der Schwelle zur Pubertät stehen. Sie werden in der Seitenansicht ohne anatomische Details wiedergegeben, in der Regel ohne Kopf, Brüste, Schamdreieck oder Extremitäten. Aus den sehr naturalistischen Frauendarstellungen sind nun mehr oder weniger abstrakte Symbole geworden. Bemerkenswert ist dabei, dass dieser Typ in ganz Mittel-, West- und Südeuropa bis in die Gegend von Málaga in der
Höhlen- und der Kleinkunst belegt ist, dass er also trotz der gewaltigen Entfernungen allgemein bekannt und verbindlich war. Das Altpaläolithikum: Die Anfänge der Technik Vor rund 3,6 Mio. Jahren wanderten drei Individuen des Australopithecus afarensis aufrecht durch die staubige Ebene von Laetoli in Tansania und hinterließen dort ihre Fußspuren. Ob diese Vormenschen bereits Werkzeuge benutzten, weiß man nicht. Erst vor rund 2,5 Mio. Jahren begannen Homo habilis und Homo ergaster, Flussgerölle nach festen Regeln so zu zerschlagen, dass scharfkantige Schneid- und Hauwerkzeuge entstanden. Damit war nach heutiger Definition die Grenze vom Vormenschen zum echten Menschen überschritten. Tiere benutzen Hilfsmittel, um an die Nahrung zu kommen, aber nur Menschen stellen sie nach festen Regeln her. Am Anfang gab es sehr einfache beilartige Geröllgeräte mit einer geraden oder gebogenen Schneide. Schon bald wurden die Gerölloberflächen immer weiter überarbeitet, bis auf diese Weise vor 1,6 Mio. Jahren grobe Faustkeile mit unregelmäßigen, wellenförmigen Schneiden entstanden.
Als einfache Zweckform wurden Geröllgeräte weltweit immer wieder hergestellt und verwendet. Deshalb kann man ohne die Kenntnis der Fundumstände und der geologischen Entwicklung einer Region nicht sicher sagen, wie alt solche Geröllgeräte wirklich sind. Der Faustkeil: Das erfolgreichste Werkzeug aller Zeiten Homo erectus, der Nachfahre der ersten Menschen, entwickelte vor rund 1,6 Mio. Jahren aus den Geröllgeräten einfache Faustkeile. Mit zunehmender Erfahrung wurden sie leichter und feiner, ihr Umriss gleichmäßig oval, spitzoval oder dreieckig. In diesem Bemühen um Symmetrie drückt sich bereits ein Formgefühl aus, das letzten Endes zur Entstehung der Kunst führen sollte. Homo erectus und seine Verwandten erkundeten bereits einen großen Teil der Welt. Mit ihm trat der Faustkeil seinen Siegeszug durch Afrika und Eurasien mit Ausnahme von Ostasien an. Für fast 1,4 Mio. Jahre blieb er das wichtigste Werkzeug. Erst im Mittelpaläolithikum verlor er gegenüber den Geräten aus Abschlägen an Bedeutung. Faustkeile dienten vermutlich als ein Allzweckgerät zum Schneiden und Bearbeiten unterschiedlicher Mate-
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Ch. Züchner, Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler rialien. Das häufig gezeigte Bild des muskulösen Wilden, der mit dem Faustkeil auf Großwildjagd geht, stimmt allerdings nicht. Denn dazu dienten ja nachweislich schon vor 400.000 Jahren Speere aus Holz.
Abb. 7: Keilmesser. Sesselfelsgrotte. Mittelpaläolithikum. Ca. 50.000 v. Chr. (Länge ca. 7 cm).
Abb. 8: Blattspitzen. Obernederhöhle. Mittelpaläolithikum. Ca. 40.000 v. Chr. (Länge ca. 9 cm).
Das Mittelpaläolithikum: Die große Zeit der Neandertaler Das Mittelpaläolithikum ist die große Zeit der Neandertaler. Man nimmt an, dass sich Homo neanderthalensis nach und nach aus dem Homo heidelbergensis entwickelt hat. Im Lauf der vorletzten Eiszeit, die vor rund 180.000 Jahren begonnen hat, verloren die Faustkeile stark an Bedeutung, Geräte aus Abschlägen wurden immer wichtiger. Die Neandertaler entwickelten unterschiedliche Strategien, um aus Feuersteinknollen regelmäßige Abschläge herzustellen, die als Ausgangsformen für genormte Geräte zu unterschiedliche Arbeiten dienten: Schaber, Spitzen und Messer (Abb. 7). Das Mittelpaläolithikum ist keine Einheit. Man bezeichnet mit diesem Begriff unterschiedliche „Kulturen“. Am bekanntesten sind das Moustérien und das Micoquien. Für den Laien sind sie kaum zu unterscheiden. Erst genaue Studien zu Gerätespektrum und Technologie
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einer Fundstelle ermöglichen die Einordnung. Ob die „Kulturen“ von unterschiedlichen Menschengruppen stammen, oder das Ergebnis bestimmter Tätigkeiten an einer Fundstelle sind, ist bis heute umstritten. Die Blattspitzen: Meisterwerke der Technik Kleine Faustkeile wurden in geringem Umfang während des gesamten Mittelpaläolithikums benutzt. Gegen Ende dieser Zeit gelang es den Steinschlägern, aus Feuerstein sehr dünne und feine, beidseitig überarbeitete Spitzen herzustellen. Wegen ihrer Form werden sie als Blattspitzen bezeichnet (Abb. 8). Typen mit spitzovalem Umriss dienten wahrscheinlich als Speerspitzen, solche mit mehr D-förmigem Umriss eher als Messer. Das genaue Alter der Blattspitzen lässt sich meist nur schwer bestimmen. Man nimmt an, dass sie vor rund 50.000 bis 35.000 Jahren in Mittel- und Osteuropa von den letzten Neandertalern und den ersten modernen Menschen (Homo sapiens) verwendet worden sind, die um diese Zeit Europa in Besitz nahmen. Blattspitzen und die notwendige Technologie kamen im europäischen
Jungpaläolithikum immer wieder einmal zu Einsatz: im Gravettien von Petřkovice und Moravany und im Solutréen Frankreichs und Spaniens. Sie sind als steinerne Bewehrung der Speere und Lanzen eine Form, die immer wieder in den unterschiedlichsten Zeiten und Räumen auftritt, chronologisch also wenig aussagefähig ist. Die Sesselfelsgrotte: 100.000 Jahre Geschichte Die Sesselfelsgrotte, ein weit vorkragendes Felsdach, öffnet sich am Fuß einer hohen Felswand in Neuessing (Ldkr. Kelheim) im Altmühltal. 1964 bis 1977 und 1981 hat dort das Erlanger Institut für Ur- und Frühgeschichte unter der Leitung von Lothar. F. Zotz und Gisela Freund erfolgreiche Ausgrabungen durchgeführt (Abb. 9). Die Fundstelle gehört heute der Universität Erlangen-Nürnberg. In fast 7 m mächtigen Ablagerungen wurden 25 Kulturhorizonte aus der letzten Eiszeit freigelegt. Die klar gegliederte Stratigraphie gibt einen detailierten Einblick in die Kulturentwicklung der letzten 100.000 Jahre. Die ältesten Kulturschichten (M bis 3-West) wurden dem Moustérien zugewiesen. Nach einer Unterbrechung von 10.000
Jahren kehrten die Neandertaler zurück (Schicht G1 bis G5, F). Von der Intensität der Besiedlung im Micoquien zeugen Zehntausende von Steingeräten, Feuerstellen, das Grab eines Fetus und Knochenreste der Jagdbeute. Vor 40.000 Jahren verließen die Neandertaler die Grotte. Erst am Ende der Eiszeit rasteten hier erneut kleine Gruppen des Magdalénien und des Spätpaläolithikums auf ihren Jagdzügen. Menschenschicksale vor 50.000 Jahren: Die Neandertaler der Sesselfelsgrotte Menschenreste sind bei Ausgrabungen immer ein Glücksfall. Dies gilt auch für die Sesselfelsgrotte. In drei verschiedenen Schichten wurden die Reste von drei Individuen gefunden. Zwei Backenzähne haben 12-jährige Kinder beim Zahnwechsel verloren. Aus dem archäologischen Zusammenhang ergibt sich ihre Zuordnung zum Homo neanderthalensis. Aus Schicht G5 stammen 12 Knochen von einem Kind, das im achten Monat tot geboren wurde oder kurz nach der Geburt starb (Abb. 10). Sie belegen, dass eine Frau im gebärfähigen Alter anwesend war, und zeigen, dass die Neandertaler den
Abb. 9: Blick in die Sesselfelsgrotte während der Ausgrabung.
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Ch. Züchner, Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler Leichnam bestattet haben, denn sonst wären die zarten Knochen vergangen. Die Grabgrube selbst ließ sich hier nur schemenhaft erkennen. Aber aus La Ferrassie in SW Frankreich kennt man Strukturen, die als Grabgruben von Neandertaler-Kindern gedeutet werden können. Mit diesem unscheinbaren Fund wird ein menschliches Drama erkennbar, das man so früh nicht erwarten würde.
Abb. 10: Neandertaler-Fetus. Sesselfelsgrotte (Neuessing, Lkr. Kelheim). Ca. 50.000 v. Chr. (Länge des OberschenkelKnochens 5,3 cm).
Die Höhlenruine von Hunas: Archiv der letzten Eiszeit Die Höhlenruine liegt am Rand eines Steinbruchs bei dem Weiler Hunas bei Hartmannshof (Lkr. Nürnberger Land) am Osthang des Steinberges. Ausgrabungen fanden dort von 1956 bis 1964 durch Florian Heller und nach einer längeren Unterbrechung seit 1983 unter der Leitung von Ludwig Reisch durch das Paläontologische und das Urund Frühgeschichtliche Institut der Universität Erlangen-Nürnberg mit neuen, verbesserten Methoden statt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ablagerungen in der Höhle ein weit über Bayern hinaus einzigartiges Archiv der Geschichte des eiszeitlichen Menschen und seiner Umwelt darstellen.
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Die Höhle selbst hat eine mehrphasige Entwicklungsgeschichte durchlaufen. Die bis heute ausgegrabenen Fundschichten lagern auf einem Sinterboden mit Tropfsteinen, der in der Zeit vor 250.000 bis 100.000 Jahre gewachsen ist. Die rund 15 m mächtige Schichtenfolge entstand danach am Beginn der letzten, der Würm-Eiszeit. Sie spiegelt einen mehrfachen Klimawandel wider, der von warmzeitlichen Verhältnissen (Waldphase) bis zu trocken-kalten Umweltbedingungen mit Steppen und Tundren reicht. Rund 130 Tierarten konnten bestimmt werden. Über die Hälfte sind Säugetiere, knapp ein Drittel Vögel, der Rest sind Kriechtiere, Amphibien und Weichtiere. Größere Tiere wurden von Raubtieren und vom Menschen als Beute in die Höhle gebracht. Die Reste von kleinen Wirbeltieren sind auf Nachtgreifvögeln wie Eulen zurückzuführen. Gerade diese Kleinsäuger sind für die Rekonstruktion der ökologischen Verhältnisse besonders aussagefähig, da sie sehr stark auf Veränderungen der Umwelt reagieren. Die vielleicht größte Überraschung war die Tatsache, dass noch zu Beginn der Würm-Eizeit in der Fränkischen Alb Berberaffen gelebt
haben, die man heute nur noch aus Nordmarokko kennt. Auf Spuren des Menschen traf man in fast allen Schichten. Es gibt eine ganze Reihe schöner, aus Abschlägen hergestellter Geräte (Abb. 11). Der Backenzahn eines Neandertalers ist der bisher älteste Nachweis des Menschen in Bayern (Abb. 12). Das Jungpaläolithikum: Die Wurzeln der modernen Welt Vor 40.000 Jahren eroberte Homo sapiens, unser direkter Vorfahre, ganz Europa. Seit dieser Zeit entwickelten sich hier Kunst, Kultur und Technik in immer schnellerer Folge bis in die Gegenwart weiter. Neue Techniken zur Herstellung von Steingeräten wurden entwickelt. Hoch spezialisierte Werkzeuge an regelmäßigen Klingen (Abb. 13) ersetzten plötzlich Faustkeile und Geräte an Abschlägen, Knochen, Elfenbein und Geweih kamen als neue, wichtige Werkstoffe hinzu. Erstmals lässt sich aus der Lage von Schmuckschnecken und Knochenperlen in den Gräbern sorgfältig genähte und reich verzierte Kleidung nachweisen. Fossile Schneckengehäuse aus tertiären Lagerstätten des Pariser Beckens wurden oft über viele Hundert Kilometer eingetauscht. Nach tastenden Versuchen in der
Zeit der Neandertaler begannen unsere Vorfahren vor knapp 40.000 Jahren, aus Elfenbein kleine Tierfiguren, wahre Meisterwerke, zu schnitzen. Wenig später schufen sie großartige Reliefs und Malereien auf Felsenblöcken in den Siedlungen und, weit ab vom Tageslicht, in tiefen Höhlen. Diese frühen Bildnisse setzen hoch entwickelte handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten voraus, die nur professionelle Künstler besessen haben können. Nach völkerkundlichen Parallelen geht man davon aus, dass sie das Werk von Schamanen oder Schamaninnen sind, die in der damaligen Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt haben müssen. Mit wenigen Ausnahmen ist die Eiszeitkunst, insbesondere die Höhlenkunst auf Europa beschränkt. Dass es in anderen Erdteilen keine Kunst gegeben haben soll, ist eher unwahrscheinlich, denn Homo sapiens war überall mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass man andern Orts Kunstwerke aus vergänglichen Materialien geschaffen hat. Tatsächlich vermutet man bei bestimmten Felsbildgruppen Australiens, dass sie, wie die europäischen, aus der letzten Eiszeit stam-
Abb. 11: Mittelpaläolithische Steinwerkzeuge aus der Höhlenruine Hunas (Grabung Heller). (Länge ca. 4 cm).
Abb. 12: Backenzahn eines Neandertalers. Hunas. Mittelpaläolithikum. Ca. 50.000 v. Chr. (Breite 1,2 cm).
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Ch. Züchner, Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler
13: Jungpaläolithischer Kern aus der Sesselfelsgrotte. Spätes Magdalénien (C-Schichten).
men. An den Wänden der Grotten von Bhimbekta und Daraki-Chattan (Madhya Pradesh, Indien) tauchten unter Ablagerungen des dortigen späten Acheuléen in den Felsen geschliffene kleine Vertiefungen (Näpfchen) und eine schlangenförmige Linie auf, die auf Grund ihrer Position unter diesen Ablagerungen rund 200.000 Jahre alt sein müssen. In Berekhat-Ram (Golanhöhen, Israel) wurde in einer Acheuléen-Fundstelle ein auffälliger Stein gefunden, der nach Ansicht einiger Autoren vom Menschen mit einigen Ritzlinien zu einer Venusfigur verarbeitet wurde. Mit einem Alter von rund 250.000 – 280.000 Jahren würde es sich um eines der ältesten Kunstwerke handeln und somit belegen, dass schon Homo erectus einen gewissen Kunstsinn hatte. Auch in Afrika gibt es einige Beispiele des frühen Kunstschaffens. Ein rund 80.000 – 100.000 Jahre altes, balkenförmiges Ockerstück aus der Blombos-Höhle in Südafrika weist an einer Kante regelmäßige, sich kreuzende Linien auf. Einige kleine Steinplatten mit Tierdarstellungen aus der Apollo-11-Grotte (Namibia) stammen aus Schichten, die auf 25.500 – 23.500 v. Chr. datieren.
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Die Kleinkunst des Jungpaläolithikums Wenn von der jungpaläolithischen Kunst die Rede ist, dann denkt man unwillkürlich an die Malereien in den berühmten Höhlen von Altamira, Lascaux oder der Grotte Chauvet. Die Tausenden von Werken der Kleinkunst, der art mobilier, der „Beweglichen Kunst“, wie sie international bezeichnet wird, haben dagegen kaum je die Beachtung erfahren, die diese kleinen Meisterwerke verdient hätten. Unter Kleinkunst versteht man Statuetten und Ritzzeichnungen auf jeder Art von beweglichen Gegenständen: auf kleinen Steinplatten, Elfenbein, Knochen, Ren- und Hirschgeweih. Es kann sich um selbständige Darstellungen von Tieren und abstrakten Zeichen handeln, aber auch um die Verzierung von Waffen und Werkzeugen. So tragen die Köpfe von Speerschleudern gerne kleine plastische Tierfiguren. Im älteren und mittleren Jungpaläolithikum überwiegen Einzelbilder, im Magdalénien werden dagegen häufig mehrere Tiere mit ganz unterschiedlichen Lebensweisen und Zeichen auf der eng begrenzten Fläche eines Knochensplitters oder eines Gerätes zusammengefügt. Aus diesen Kompositionen kann
man erahnen, dass es Erzählungen gegeben hat, die mit dem Jahreslauf, mit Leben und Tod zu tun haben, vielleicht sogar auch Schöpfungsmythen von der Entstehung des Lebens, wie sie von vielen Völkern bekannt sind. Bären und andere Tiere stehen dort als Symbole für vielschichtige Vorgänge, die sich dem Betrachter nicht ohne weiteres erschließen. Im Gegensatz zur Höhlenkunst, in der die einzelnen Bilder in der Regel keinen erkennbaren Zusammenhang zu einander haben, geben solche Darstellungen der Kleinkunst zumindest gewisse Informationen zum Verständnis der Eiszeitkunst. Schon die ersten, rund 35.000 Jahre alten Werke des Aurignacien, die Elfenbeinstatuetten aus dem Vogelherd, Geißenklösterle, Hohle Fels und dem Hohlenstein-Stadel im Schwäbischen Jura, sind kleine Meisterwerke. Tastende Vorläufer des Kunstschaffens kennt man bis heute nicht. Der „Löwenmensch“ aus dem Hohlenstein-Stadel, ein Mischwesen aus Mensch und Tier, lässt bereits ein komplexes Denken erkennen, aber auch die enge Bindung zwischen Mensch und Tier in diesen frühen Zeiten. Sicherlich hat es auch im Jungpaläolithikum ein gewisses Schmuck-
bedürfnis gegeben. Aber allein die Tatsache, dass es schon von Anfang an eine Verknüpfung von Tierbildern und Symbolen gegeben hat, legt nahe, dass es Kunst um ihrer selbst willen kaum gegeben haben dürfte. Jedes Bild beinhaltet auch eine Botschaft, so wie in unserem Kulturkreis die Taube das Symbol für Frieden, den Heiligen Geist oder das ganze Neue Testament ist. Man hört zuweilen, es habe im Paläolithikum keine „Kunst“ im engeren Sinn des Wortes gegeben, sondern alle Bildwerke seien „Botschaften“ gewesen. Diese Unterscheidung ist akademisch, denn Kunst hat zu jeder Zeit eine Aussage beinhaltet. Wenn im Mittelalter Maler und Bildhauer im Dienste der Kirche und der Religion standen und als Handwerker angesehen wurden, so waren sie dennoch zugleich Künstler. So gesehen waren auch die Maler und Bildhauer des Paläolithikums Menschen mit einer speziellen, von der Allgemeinheit anerkannten Begabung, eben Künstler, auch wenn ihre konkrete Stellung in der Gesellschaft die eines Schamanen oder einer Schamanin gewesen sein mag.
14: Schmuck aus durchbohrten Tierzähnen. Laugerie-Haute (Dordogne, Frankreich). Älteres Magdalénien. Ca. 14.000 v. Chr.
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Menschen der Eiszeit Die Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums Leif Steguweit (Erlangen)
Speerschleuder-Hakenenden des Magdaléniens. (Foto und Repliken Christian Foppa).
Die Anpassung des Frühmenschen an das kühle Klima in Europa und Zentralasien stellt eine der erstaunlichsten Leistungen dar, die je von Lebewesen vollzogen worden ist. Denn nicht der frühe Gebrauch von Werkzeugen, und nicht die frühe „Wanderlust“ der Urmenschen – heute unter dem Stichwort „Out of Africa 1“ zusammengefasst – sind die eigentlichen Schritte der Menschwerdung. Einfache Werkzeuge werden auch von Tieren benutzt, und die Besetzung eines klimatisch günstigen Lebensraumes über den gesamten Erdball ist eine Leistung, die immer wieder auch von Tieren vollzogen wird. Denkbare ökologische Nischen zu nutzen ist der Plan der Evolution, welcher sich lediglich durch das jeder Art mitgegebene „Roadbook“ unterscheidet. Der Urmensch tat mit der Ausweitung des Habitats nach Norden zunächst also nur das, was viele Tiere auch taten!
Einmalig ist dagegen der Vorgang, der aus archäologischen Funden im Vorfeld der Saale- bzw. RissEiszeit (sog. früher Saale-Komplex) vor etwa 300.000 Jahren erstmals abgeleitet werden kann: Eine weltweite Warmphase von einigen Jahrtausenden geht zu Ende, und ein Großteil der wärmeliebenden Tier- und Pflanzenarten verschwindet. Nur in südlichen Refugien können diese Arten überleben, um sich im nächsten Interglazial wieder nordwärts zu verbreiten. Doch der Mensch bleibt, während es in Mitteleuropa subarktisch kalt wird. Er passt sich den veränderten Umweltbedingungen an. In diesem Moment verlässt der Mensch seinen tierischen, von der Biologie vorgegebenen Lebensraum – er wird zum Prometheus, der das Feuer beherrscht. Indem er bleibt, erobert er einen Teil der Natur, wo diese ihn als Art nicht vorgesehen hat! Indem er es schafft, mit einfacher
Bekleidung das ihm auf den Affenleib geschriebene Savannenklima zu simulieren, meistert er zugleich den Klimawandel. Denn hier in der Kaltsteppe findet er paradiesisch große Jagdressourcen, die eigentlich nicht für ihn vorgesehen sind. So wie Prometheus einst den Zorn der Götter auf sich zog, können und sollten wir Menschen uns fragen, ob wir seitdem auf einem guten Weg voranschreiten, oder ob seit diesem ersten „Griff nach den Sternen“ mit unserer Gattung vielleicht etwas schief gelaufen ist? Eine Geschichte, die vor ca. 300.000 Jahren begann – und die uns Nachfahren etwas angeht, da sie uns bis heute bestimmt. Der Urmensch im „Adamskostüm“ Als Urmenschen der Art Homo ergaster vor ca. 1,8 Millionen Jahren erstmals Afrika verließen, taten sie das, was viele Tiere auch tun: ihren
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
Abb. 1: Unterkiefer .von Mauer bei Heidelberg (auf originalem Kästchen von 1907, Universität Heidelberg).
Lebensraum erweitern, und mit genetischen Anpassungsstrategien möglichst optimal verschiedene Nischen besetzen, die im Rahmen ihrer ökologischen Bandbreite liegen. Das Klima war in den frühen Episoden der Nordausbreitung stets wärmer als heute. Diese Phasen, die 15.000 Jahre und wesentlich länger angedauert haben, sind im geologischen Sinne die Zwischeneiszeiten während des Eiszeitalters, das als globales Auf und Ab der Temperaturkurve vor 2,6 Millionen Jahren begann. Die begrenzte Fähigkeit, die menschliche Körpertemperatur gegenüber unwirtlichem Klima aufrecht zu erhalten macht plausibel, dass Urmenschen ihren Lebensraum überall und nur dort behaupten konnten, wo sie im „Adamskostüm“ zu überleben in der Lage waren. Wenn man bedenkt, dass Charles Darwin in seinem 1839 erschienenen Reisebericht Diary of a Naturalist Around the World von nackten Ureinwohnern auf Feuerland berichtet hat, kann man erahnen, dass dies wohl noch bei monatlichen Durchschnittstemperaturen von 2 – 10° C möglich gewesen ist, solange winterliche Minima nicht unter den Gefrierpunkt fallen. Auch die Inuit der Arktis sind in ihrem Stoffwechsel
auf den Ausgleich der Umgebungskälte spezialisiert und empfinden die genannten Temperaturen eher als „T-Shirt-Wetter“. In der frühen Nordausbreitung der Urmenschen während der Warmzeiten allein besteht also noch keine kulturelle Anpassungsleistung. Es kann davon ausgegangen werden, dass Homo ergaster als Bestandteil einer Faunengemeinschaft von Jägern und Gejagten lebte, die sich nur zusammen erfolgreich in ihrer Umwelt behaupten konnte, und die bei Klimaverschlechterungen gemeinsam unterging. Selbstverständlich war es keine „Wanderung“ im heutigen Sinne des Wortes, als Homo ergaster vor ca. 1,8 Millionen Jahren zusammen mit vielen Tierarten sein Habitat nach Westasien (z.B. Dmanisi, Georgien) und Südostasien (Sangiran auf Java, Indonesien) erweiterte, sondern eine Ausbreitung, die in der Lebenszeit des einzelnen Individuums kaum merklich voranschritt. Daher erübrigen sich Fragen, welche Route Urmenschen zum Beispiel nach Südostasien genommen haben könnten. Zum Beispiel ob sie die „Abkürzung“ über die Arabische Halbinsel genommen haben oder nicht. Es wird ein Tasten und Versuchen, ein Trial and Error in alle Himmelsrichtungen gewesen sein,
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geprägt vom Untergang der Pechvögel und Überleben der Glückspilze über viele Generationen hinweg. Urmenschen der Arten Homo ergaster und Homo rudolfensis sind vor rund 2 Millionen Jahren bereits in Afrika zu erfolgreichen Generalisten („Allesfressern“) geworden. Auch wenn Experten nach wie vor über den Anteil der Jagd im Nahrungsspektrum streiten, besteht allein aufgrund der gewachsenen Gehirne kein Zweifel, dass Karnivorie (Nahrung Fleisch, Fisch, Eier, Insekten) spätestens ab etwa 2,5 Millionen vor heute den Motor der menschlichen Evolution darstellte. Denn nur fleischliche Nahrung konnte – in Maßstäben der Evolution gesehen – zur kurzfristigen Vergrößerung des energieaufwändigen Gehirns in Relation zum Körpervolumen beitragen. Zugleich erhöhte Karnivorie die Gebärfähigkeit der Weibchen und damit die Reproduktionsrate der Gruppen. Die Gruppen wuchsen, und mit ihnen die soziale Vernetzung, die Notwendigkeit der Kommunikation. Aber auch die Jagd schafft und erfordert ein wesentlich komplexeres Sozialverhalten als opportunistische Nahrungsgewinnung. Sie erzeugt synergetische Prozesse der Rollenzuteilung und der Hierarchie in der Gruppe. Es
hieße also die Frage nach dem Ursprung anhand von Henne und Ei zu beantworten, wollte man entscheiden, ob die Urmenschen zuerst eine komplexere Denkfähigkeit erreicht oder ihren Speiseplan verbessert haben. Beide Prozesse gehen Hand in Hand miteinander: soziale Intelligenz und Jagd sind zwei Seiten derselben Medaille! Während die auf Pflanzennahrung spezialisierten robusten Australopithecinen vor ca. 1,5 Millionen Jahren endgültig aussterben, erweist sich der jagende Generalist als Sieger der Evolution. Prometheus war Neandertaler! Als Homo ergaster den eurasischen Kontinent bevölkerte, war es stets warm. Separation der Lebensräume und klimatische Wechsel veränderten ihn vor mehr als einer Million Jahren zu Homo erectus in Asien, Homo georgicus südlich des Kaukasus und Homo antecessor in Spanien. Homo heidelbergensis wird der Urmensch genannt, der vor ca. 500.000 Jahren – während der Cromer-Warmzeit (bzw. Hoßkirch-Komplex) – in ganz Mitteleuropa und bis nach England nachgewiesen ist. Ein jüngst erschienener Band widmet sich der hundertjährigen Wiederkehr seiner Entdeckung (Wagner u.a. 2007).
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
Abb. 2a: Bilzingsleben (Thüringen) – Fundstelle des Homo heidelbergensis.
Inwieweit Homo heidelbergensis in den nächsten Hunderttausenden von Jahren Schritt für Schritt zum Neandertaler mutierte, ist heute in der Forschung noch umstritten. Denn während Untersuchungen der DNA darauf hindeuten, dass der Neandertaler bereits eine etwa 700.000-jährige genetische Geschichte hat, lässt sich der graduelle Übergang von der einen Art zur anderen aber kaum an fossilen Knochen ablesen. Im Bonebed von Bilzingsleben zum Beispiel wurden 400.000 Jahre alte Schädelfragmente gefunden, die noch sehr gut in das Spektrum des Homo heidelbergensis passen und ihn zugleich für die Holstein-Warmzeit belegen (Steguweit 2003). Auch zu dieser Zeit war es in Mitteleuropa im Jahresmittel wieder 2-3° C wärmer als heute, und ein submediterraner BuchsbaumEichenmischwald prägte die Flora des Thüringer Beckens. Das Umfeld dieses Urmenschen ist im Steinbruch von Bilzingsleben, durch die Einlagerung aller Funde in einer kreidigen Kalkschicht und darüber aufgewachsenen 5 Meter dicken Sinterkalken, in einzigartiger Vielfalt von Tier- und Pflanzenresten erhalten geblieben. Homo heidelbergensis nutzt bereits das Feuer, wie aus einigen Fundstellen (z.B. Gesher
Benot Yaáquov, Israel) seit mindestens 700.000 Jahren bewiesen ist. Ein Lagerfeuer ist unabdingbar für das Überwintern während der Holstein-Warmzeit nördlich der Alpen, denn die nächtlichen Wintertemperaturen liegen zum Teil unter dem Gefrierpunkt. Zugleich ist das Garen des Fleisches für Homo heidelbergensis wichtige Voraussetzung, um die großen Mengen fleischlicher Nahrung verdauen zu können. Ob dieser Urmensch das Feuer allerdings schon selbst entfachen oder nur am Leben halten konnte, muss heute offen bleiben. Feuer durch Funken schlagen oder Reibung zu entfachen ist ein Geschick und Erfahrung erfordernder Vorgang – wie jeder weiß, der es einmal selbst probiert hat (Collina-Girard 1994). Zu groß ist die Verlockung, uns sympathische Vorstellungen auf diesen ersten Europäer zu projizieren, auch wenn es noch keine handfesten Beweise für ein komplexes Alltagsleben gibt. Die aus Fichtenstämmchen geschnitzten Speere von Schöningen in Niedersachsen sind – sofern sich ihr hohes Alter bestätigt – zumindest ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Jagd mit Fernwaffen ihn bereits deutlich aus dem tierischen Fressen-Und-Gefressen-Werden
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abhebt (Thieme 1999). Ein angekohlter Holzstab aus Schöningen zeigt, dass er die Speere am Feuer schnitzte und härtete. Ein Wurfholz aus Schöningen, eine weitere Lanzenspitze aus Clacton-on-Sea (England) und in verschiedenen Fundstellen verstreute, bearbeitete Holzreste belegen, dass die Steinzeit ab dieser Zeit auch schon „Holzzeit“ war, und Urmenschen sicher eine Reihe von Werkzeugen hatten, von denen wir wegen ihrer Vergänglichkeit im Boden nie etwas erfahren werden. Bewertet man die Leistungen der Heidelberger Urmenschen mit aller gebotenen Vorsicht, so lässt sich heute sagen: Sie meisterten das Leben in mindestens zwei Warmzeiten Europas. Sie nutzten das Feuer, stellten formschöne Faustkeile und effiziente Speere her. Mit dem Speer waren sie in der Lage, mit dem Überraschungseffekt des Wurfes weit über das hinauszugehen, was ihnen die Jagd im Nahkampf ermöglicht hätte. Damit klettert der Mensch in der Nahrungskette nach oben, er wird zum Großwildjäger. Mit dem Feuer kann er zugleich Raubtiere wie Löwen und Wölfe von seinen Nachtlagern fernhalten. Dazu befähigt hat ihn nicht die Natur, sondern sein Verstand! Dennoch scheint der
Urmensch im Wesentlichen noch in seinen biologischen, genauer gesagt klimatischen Grenzen befangen zu sein, denn während der ersten großen Inlandvereisung zwischen Cromer- und Holstein-Warmzeit verschwindet er wieder vollständig aus Mitteleuropa. Kein einziges Feuersteingerät wurde in Schottern der elsterzeitlichen Flussterrassen zwischen 450 – 420.000 Jahre vor heute gefunden, obgleich diese im Gebiet des mitteldeutschen Braunkohlenabbaus über viele Quadratkilometer untersucht werden konnten. Kaum menschliche Fossilien gibt es auch nach der Holstein-Warmzeit, aus der Phase zwischen etwa 400.000 Jahren und der letzten Eiszeit (Würm- oder Weichseleiszeit), die vor ca. 100.000 Jahren begann und als Zeit des „Klassischen Neandertalers“ bezeichnet wird. Damit ist es schwer, den graduellen Wandel vom Homo heidelbergensis zum Neandertaler zu fassen, denn nur die Steinwerkzeuge blieben zurück. Wie oft verschwanden die Menschen zwischenzeitlich aus unseren Breiten und kehrten sie wieder? Nie wird es möglich sein, Entscheidungen auf einer historischen Ebene – wie den Rückzug einzelner Gruppen wegen zunehmender Kälte – über solch weit zurückliegende
Abb. 2b: Bilzingsleben (Thüringen) – Steingerät des Homo heidelbergensis.
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
Abb. 3: Lübbow: Feuersteinabschläge, die in Levallois-Technik hergestellt sind, Alter 300.000 – 200.000 Jahre.
Zeiträume zu reproduzieren. Was uns bleibt, ist die Möglichkeit, Funde in immer zuverlässigerer Art und Weise zu datieren, z.B. über absolute Messungen von Zerfallsreihen bestimmter Isotope, oder durch die Einlagerung in die eiszeitlichen Sedimente. Und doch wissen wir: Irgendwann zwischen Homo erectus und Homo neanderthalensis, zwischen etwa 400.000 und 300.000 Jahren vor heute passierte es: Der Mensch blieb, er passte sich an die Kälte an. Er beherrschte das Feuer und lebte dauerhaft bei Temperaturen, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen konnten. Eingepackt in Felle, gesalbt mit Tierfett oder durch einen anderen von ihm erdachten Schutz schaffte es der „nackte Affe“, dem für ihn lebenswidrig gewordenen Klima zu trotzen. Die ältesten Funde von
Steinwerkzeugen, die das dokumentieren, stammen aus Schottern und Sanden der so genannten „Hauptterrasse“ aus eiszeitlichen, breit verzweigten Flussbetten, wie in Markkleeberg, Wallendorf und Eythra bei Leipzig (Weber 2004). Oft werden diese Feuersteingeräte in Verbindung mit Knochen der kaltzeitlichen Tierwelt gefunden, wie Steppenelefant, Wollhaarnashorn, Bison und Wildpferd. Es sind Abschläge, Faustkeile und große Schaber des Acheuléen. Neben den schon vor 500.000 Jahren in Europa erstmals nachgewiesenen Faustkeilen fallen nun vor allem Steingeräte auf, die mit einer neuen Technik, der Levallois-Technik, hergestellt worden sind (Abb. 3). Ein schildförmig präparierter Kern wird so bearbeitet, dass sehr dünne und scharfkantige Zielabschläge abgetrennt werden können. Eine Gewichtsersparnis des Endproduktes gegenüber einfachen plumpen Abschlägen ist das Resultat. Bedenkt man, dass die schneidenden Kanten solcher Abschläge schnell abstumpfen, dann kann darin durchaus eine Motivation dieser an sich Material verschwendenden Technik vermutet werden. Der Neandertaler als erster vom Gewichtsparen besessener Outdoor-Spezialist? Die
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Bearbeitung von Feuersteinknollen in Levallois-Technik kommt erstmals zu dieser Zeit auf, und begleitet den Neandertaler über ca. 200.000 Jahre lang bis zum Ende des Mittelpaläolithikums. Als es in Mitteleuropa erneut wärmer wird, vor ca. 300.000 Jahren, verdanken wir einer Kiesgrube bei Steinheim (Baden-Württemberg) einen der wenigen Einblicke in die Menschenform, die inzwischen entstanden ist: Hier wurde der Schädel eines Neandertalers (möglicherweise einer Frau) gefunden, der die phylogenetische Entwicklung seit dem Bilzingslebener Urmenschen dokumentiert. Und erneut wird es kälter, wie an den oberen Schottern mit Tierknochen der nächsten Kaltzeit auch in Steinheim abzulesen ist. Identische Feuersteinwerkzeuge in Levallois-Technik – wie sie auch schon rund 100.000 Jahre früher hergestellt worden sind – gibt es aus den Vorschüttkiesen der extremsten Vergletscherung Mitteleuropas, dem geologischen Komplex der Saale-Eiszeit im Norden bzw. der Riss-Eiszeit im Alpenraum. Ein Prachtexemplar eines isolierten Faustkeils, dessen genaues Alter als Einzelfund allerdings schwer abschätzbar ist, wurde bei Neuendettelsau (Lkr. Ansbach, Mittelfranken)
gefunden (Kohl & Reisch 1993, 8). Immerhin ist es einer der sichersten Belege, dass Neandertaler einst durch Mittelfranken streiften (Abb. 4). Eine andere unweit gelegene Fundstelle, an der Neandertaler ihre Werkzeuge hinterließen, ist die ehemalige Höhle bei Hunas im Hersbrucker Land (siehe Einleitung Züchner). Diese stammen allerdings bereits aus der letzten Kaltzeit, nördlich der Alpen Würm-Eiszeit genannt und Weichsel-Eiszeit im Tiefland des nördlichen Mitteleuropa. Die letzte Eiszeit ist wiederum ein Komplex, der sowohl kalte als
Abb. 4: (Kopie).
Neuendettelsau:
Faustkeil
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
Abb. 5: Visualisierung der Warm- und Kaltphasen während der letzten Eiszeit anhand der Sauerstoffisotopen-Verhältnisse, die aus den Schalen ozeanischer Kleinstlebewesen ermittelt werden.
auch wärmere Phasen enthielt. Sie begann nach dem Ende der letzten Warmzeit, dem Eem-Interglazial, vor rund 115.000 Jahren. Die zwei Kältephasen, während derer Teile Europas von bis zu zwei Kilometer mächtigem Gletschereis bedeckt waren, hatten ihre Maxima vor etwa 70 – 60.000 und 22 – 18.000 Jahren (Abb. 5). Es kann vermutet werden, dass Menschen Mitteleuropa nun zu keiner Zeit mehr vollständig verlassen haben, auch wenn Funde um das erste Hochglazial sehr spärlich ausfallen. Zu ähnlich sind die Werkzeuge, die sowohl davor als auch danach von ihnen hergestellt wurden. Der klassische Neandertaler der letzten Eiszeit ist in seiner gesamten Anatomie durch extreme Anpassung an die Kälte geprägt. Ein massiger Brustkorb und eine gedrungene und enorm kräftige Gestalt zeigen dies an, ähnlich wie sich eine anatomische Anpassung, allerdings längst nicht so stark, bei arktischen Völkern während der letzten 14 – 12.000 Jahre vollzogen hat. Hätte sich die gesamte Neandertaler-Population hin und wieder in wohltemperierte Gebiete zurückgezogen, wäre diese extrem robuste Anatomie wohl kaum denkbar. Die Anpassung unserer flachstirnigen Verwandten an ark-
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tische Lebensbedingungen begann vor 115.000 Jahren und dauerte bis zu ihrem Aussterben vor ungefähr 30.000 Jahren an. Solange es Nahrung gab – und das waren vor allem arktische bzw. subarktische Herdentiere wie Ren, Pferd, Bison, Saigaantilope und Mammut – lebten diese Menschen am Eisrand. Sie aßen Fleisch und heizten statt mit Holz teilweise auch mit den Knochen erlegter Tiere. Da die Flüsse sich im Zuge des tauenden Gletschereises immer tiefer in die Täler eingeschnitten haben, kann die Terrassenhöhe der Schotterbänke den Experten Aufschluss über das Alter darin eingelagerter archäologischer Funde geben. Je tiefer die Terrasse liegt, desto jünger ist sie. Auch in der Niederterrasse des Süd-Nord verlaufenden Talzuges von Rezat – Rednitz – Regnitz bis zum Obermain wurden mehr als ein Dutzend Fundpunkte entdeckt; das heißt Stellen, in denen aus Schottern und Sanden einzelne Fundobjekte der Würm-Eiszeit zutage kamen. Wie alt diese Funde im Einzelnen sind, ist nicht wirklich zu ermitteln. Vieles spricht dafür, dass sie älter als das letzte Hochglazial, also ca. zwischen 50 – 30.000 Jahre alt sind und damit dem sogenannten Inter-Pleniglazial zwischen
dem ersten und zweiten Kältemaximum der Würm-Eiszeit angehören. Das war eine Phase, in der es zwar überwiegend subarktisch kalt war, jedoch immer wieder durch Wärmeschwankungen unterbrochen, während derer es in klimabegünstigten Gegenden Mitteleuropas zu einem lichten Waldbestand kam. Ein schönes Beispiel für Terrassenfunde aus laufendem Sandwerk-Betrieb gibt es im Aischgrund unweit der Gemeinde Gremsdorf (Lkr. Erlangen-Höchstadt) (Abb. 6-7). Durch die Betreuung der Abbauarbeiten von engagierten Heimatforschern konnten hier direkt vom Auswurf des Schwimmbaggers eine Reihe mittel- und jungpaläolithischer Artefakte sowie ein großes Spektrum eiszeitlicher Tierreste geborgen werden (Ambros u.a. 2001). Einige Werkzeuge erlauben eine zuverlässige Einordnung in das späte Mittelpaläolithikum, zum Beispiel eine fragmentierte Blattspitze und mehrere typische MoustérienSchaber. Einen Höhepunkt stellte die Bergung des zu etwa 2/3 erhaltenen Skeletts eines Wollhaarnashorns (Coelodonta antiquitatis) im Jahre 2001 dar (Kaulich & Hilpert 2005) (Abb. 8-10). Hoffen wir, dass es in Höchstadt bald zu einer dauerhaften Präsentation dieser für
Abb. 6: Gremsdorf – Sandgrube Roth mit Überkornhalde (rechts), wo Artefakte und Knochen aus dem laufenden Abbau abgelesen werden.
Abb. 7: Gremsdorf – Mittelpaläolitische Steinartefakte, gefunden von der Arbeitsgruppe aus Höchstadt a. d. Aisch.
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
Abb. 8: Gremsdorf – Oberkieferbackenzahn eines Wollhaarnashorns und drei Backenzähne vom Mammut mit unterschiedlichen Abbaustadien. Abb. 9: Gremsdorf – Rollbein, Fingerknochen, Huf und Schienbein vom Wildpferd.
die Regionalgeschichte so interessanten Funde kommen wird! Der Einwanderer Homo sapiens Seit etwa 40.000 Jahren werden in Europa Werkzeuge und Schmuckgegenstände hergestellt, die qualitativ neu sind. Es sind unsere Ahnen, die Cro-Magnon-Menschen, die nun in den Norden vordringen. Auch wenn wir den Grund bis heute nicht wissen, ist klar: Nach etwa 10.000 Jahren des Nebeneinanders mit dem Neandertaler blieb nur Homo sapiens auf unserem Kontinent übrig, der sich heute – nicht frei von Eitelkeit – als „moderner“ Mensch bezeichnet. Auch wenn der Ausbreitungsweg des Homo sapiens sich als Prozess von historischer Dimension unseren Ermittlungen entzieht, ist allein aufgrund der Erbsubstanz klar, dass alle heute weltweit lebenden Menschen
auf eine kleine afrikanische Urpopulation zurückgehen, die vor ca. 200.000 Jahren gelebt haben muß. Vor 100 – 80.000 Jahren gibt es bereits in der Levante Menschenreste, die eine schrittweise Ausbreitung des „modernen Menschen“ nach Norden anzeigen. In Europa treten vor 40 – 38.000 Jahren (keine Sonnenjahre, sondern Radiokarbon-Jahre der 14C-Methode) völlig neue Klingen, Kratzer und an der Basis gespaltene Speerspitzen auf, die als Kultur des Aurignacien bezeichnet werden. Diese steinernen Werkzeuge als indirekten Abstammungsnachweis einer eingewanderten Population anzusehen, hieße aber wahrscheinlich sie überzubewerten. So sind die ältesten AurignacienWerkzeuge derzeit im Mittleren Osten an den Südausläufern des Zagros-Gebirges im Iran nachgewiesen worden (Olzsewski & Dibble 1994), was verbunden mit nur geringfügig jüngeren Fundstellen im Kaukasus eine gerichtete Ausbreitung von dort nach Osteuropa nahe legen könnte (Otte 2007). Doch das scheint ungefähr so plausibel, als würde man die Verbreitung des Schweizer Taschenmessers als Beweis für die weltweite Verbreitung der Eidgenossen im ausgehenden 20. Jahrhunderts ansehen… Hier zeigen
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sich die Grenzen archäologischer Erkenntnis, denn ein funktional sinnvolles Werkzeug wird unter ähnlichen Umständen auch ganz ähnlich hergestellt, ohne dass Bevölkerungen oder Ideen wandern müssten. Fest steht hingegen, dass die einzigen europäischen Fossilfunde des Homo sapiens aus der Zeit des älteren Aurignacien ohne begleitende Werkzeuge gemacht wurden. Sie stammen aus der Pestera cu Oase, der „Knochenhöhle“ in Rumänien, und sind die ältesten Schädelreste „moderner“ Menschen in Europa. Vergesellschaftungen von Menschenresten des Homo sapiens und Aurignacien-Werkzeugen gibt es erst aus Fundschichten, die auf etwa 32.000 Jahre vor heute datiert wurden (Radiokarbon-Jahre der 14C-Methode). Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Aurignacien und Homo sapiens unmittelbar miteinander verknüpft werden können. Vor allem sind es die begleitenden kulturellen Indizien, die unsere Ahnen deutlich von den Neandertalern unterscheiden lassen. Denn nirgends gibt es ein Bildendes Kunstwerk eines Neandertalers, sieht man von einigen nicht wirklich gesicherten Objekten ab. Einige ins Feld geführte, wohl
zufällig figürlich oder als Kopf geformte Steine (z.B. Berekhat Ram, Israel; La Roche-Cotard, Frankreich) können einer kritischen Betrachtung nicht standhalten. Definiert man Bildende Kunst als ein körperlichräumliches Gebilde, das durch sich selbst wirkt und keinen Interpreten benötigt, um vom Rezipienten wahrgenommen zu werden, dann können Perforationen von Knochen und Tierzähnen bestimmt noch nicht dazu gezählt werden. Auch regelhaft dekorierte, d.h. angeritzte Knochen sind in diesem Sinne keine Kunstwerke. So bleiben sowohl von Neandertalern durchgeführte
Abb. 10: Gremsdorf – Geweihreste vom Rentier, Elch/ Riesenhirsch und vom Rothirsch.
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums Ritzungen auf Knochen und perforierte Zähne, als auch von Homo sapiens hergestellte älteste Perlen und Schmuckstücke (z.B. BlombosHöhle, Südafrika, ca. 70.000 Jahre) nur dekorative Elemente. Es ist aus ihnen keine Botschaft abzulesen, zumindest keine, die sich uns ohne Interpreten erschließen würde. Ein Solidarisierungseffekt mit den Fähigkeiten früher Menschen würde hier die Sicht auf den echten qualitativen Sprung verstellen, der erst nach 40.000 Jahren vor heute in den nördlichen Breiten vollzogen worden ist. Plötzlich tauchen wie aus dem Nichts figürliche Kunstwerke auf, die sich jedem Betrachter der Neuzeit erschließen. In Kostenki am Don (Russland) gibt es einen in Mammutelfenbein geschnitzten Kopf, im Geißenklösterle in BadenWürttemberg gibt es mehrere vollständig ausgeformte, figürliche Kleinkunstwerke aus demselben Material (Sinitsyn 2003; Conard & Bolus 2003). In beiden Fällen werden sie zwischen 40 – 35.000 Jahre vor heute datiert und sind die ersten Bildenden Kunstwerke im modernen – das heißt im sich auch heute erschließenden – Sinne. Die Karsthöhlen der Schwäbischen Alb bilden einen Glücksfall für Archäologen. Die Vorliebe der Ahnen, in
dieser Region Figuren aus relativ verwitterungsbeständigem Mammutelfenbein zu schnitzen, hat ihr den Ruhm als Keimzelle der Kunst eingetragen. Denn nur wenige franko-kantabrische Höhlenbilder datieren in das Aurignacien, in jedem Falle aber jünger als die Figuren aus dem Geißenklösterle. Einige der frühen Aurignacien-Kunstwerke der Schwäbischen Alb werden ausführlich in diesem Band beschrieben (Beiträge Wehrberger und Hein). Wie umfangreich das Kunstschaffen mit vergänglichen Materialien wie Holz oder Lehm, Malereien auf organischen Materialien wie Leder oder den menschlichen Körpern selbst gewesen ist, werden wir hingegen wohl nie erfahren. Das Aurignacien wird ab ca. 30.000 Jahren vor heute schrittweise von der Kultur des Gravettien abgelöst. Kennzeichnend ist nun die massenhafte Herstellung von schmalen rückengestumpften Klingen, die mit Pech, Knochen- oder Fischleim auf Speerschäfte und Griffe aus Geweih und Knochen aufgeklebt worden sind. Die unterschiedlichen Rohmaterialien, oft über weite Strecken transportiert, zeigen einerseits den hohen Grad an Mobilität der Nomadenstämme an. Andererseits
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gibt es eine Reihe von jagdstrategisch ideal gelegenen Siedlungen, die offenbar über längere Zeit oder in zyklischen Abständen als Basislager genutzt worden sind. Dazu gehören die berühmten Fundstellen Dolní Věstonice und Pavlov am Fuße der Pollauer Berge in Südmähren (Tschechien), von denen in der Ausstellung verschiedene prachtvolle Kleinkunstwerke gezeigt werden (Beiträge Oliva und Lázničková-Galetová). Der besondere Reichtum an organischen Artefakten aus Knochen, Geweih und Elfenbein hat für die Region Mähren und Niederösterreich zur Kulturbezeichnung des Pavlovien geführt. Auch in Frankreich und Kantabrien gibt es zu dieser Zeit eine Blüte des Kunstschaffens, dort vor allem was die Ausmalung von Höhlen betrifft. In ganz Europa sind um 27.000 v. Chr. (24.000 unkalibrierte Radiokarbonjahre vor heute) die so genannten „VenusFiguren“ verbreitet (Abb. 11 a, b). Das sind meist dickleibige Frauenfiguren aus Elfenbein, Ton oder Stein, die möglicherweise als Ritualfiguren bei Schwangerschaften verwendet worden sind. Während des Gravettien/ Pavlovien wird es in ganz Europa zwischen 27 – 22.000 v. Chr. zunehmend käl-
ter, und um 22.000 v. Chr. beginnt das Maximum der letzten Vergletscherung Nordeuropas. Wie es scheint, hat sich auch der moderne Mensch inzwischen sehr gut mit der Kälte arrangiert. Denn statt vor der Kälte zu flüchten, ist ihm das reiche Nahrungsangebot der offenen Mammutsteppe offenbar wichtiger als ein Platz an der Sonne. Vermutlich ist er durch vollständig funktionale Kleidung in der Lage, es dem Neandertaler gleich zu tun, was das Überleben in der Kälte betrifft. Während jener offenbar aber durch martialische körperliche Unempfindlichkeit überlebte (wie auch schwere intravitale Verletzungen zeigen), ist Homo sapiens in der Lage, Kleidung ähnlich der von sibirischen oder nordamerikanischen Völkern in historischer Zeit zu nähen. In der Fundstelle Sungir, am Rande von Erlangens russischer Partnerstadt Wladimir gelegen, wurden drei besonders reich ausgestattete Gräber gefunden. Die Bestatteten sind vor 30.000 Jahren in vollständiger Bekleidung niedergelegt worden waren. Dass diese Lederkleider mit Faden (Sehnen oder Haaren) solide vernäht waren, zeigt sich indirekt anhand von Tausenden kleiner Elfenbeinperlen, die zusätzlich auf die Kleidung und die
Abb. 11 a+b: Original und Kopie der Venus von Brassempouy (Herstellung der Elfenbein-Replik: W. Hein). Höhe 3,6 cm, Alter ca. 24.000 v. Chr..
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L. Steguweit, Menschen der Eiszeit: Kulturen des Mittel- und Jungpaläolithikums
Abb. 12: Mezhirisch, Ukraine: Struktur aus Mammutknochen, Hausbefund IV.
Abb. 13: Rekonstruktion des Mammutknochenhauses I von Mezhirich, Ukraine (Originalgröße). Ausstellungen Luksch.
Mützen aufgenäht worden sind. In verschiedenen Regionen Europas einschließlich Deutschlands gibt es Daten, die eine Besiedlung auch während des zweiten Kältemaximums um 20.000 v. Chr. belegen. Selbst wenn die Besiedlung Mitteleuropas merklich ausdünnt, sind die Menschen nie ganz verschwunden. Bei der inzwischen großen Mobilität ist denkbar, dass es zu kurzfristigen Wanderungen der Gruppen über große Distanzen quer durch Europa kam. Die Kulturen dieser Zeit heißen in Frankreich Solutréen, in Mittelund Südeuropa Epigravettien.
Das Ende der Eiszeit Um 18.000 v. Chr. ist zwar das Kältemaximum der letzten Eiszeit überschritten, dennoch sollte es im Anschluss noch Jahrtausende dauern, bis die Vergletscherung Nordeuropas vollständig abgetaut ist. Zunehmende Temperaturen lassen den Gletscher zunächst in die Breite fließen, bevor es zum Rückzug seiner Front kommt. Nach wie vor dominiert in Mitteleuropa während des Magdalénien die Kältesteppe mit nomadisierenden Jägern und Sammlern. Während das Mammut in Westeuropa zu dieser Zeit schon sehr selten geworden ist, gibt es in der osteuropäischen Tundra noch imposante Belege für die prestigeträchtige Jagd auf das größte Tier der eurasischen und nordamerikanischen Tundra. In Mezhirich in der Ukraine zum Beispiel wurden vier riesige Haufen mit regelhaft gestapelten Mammutknochen gefunden, die um 15.000 v. Chr. als kuppelförmige Bauten aufgestellt waren (Abb. 12). Dem Ausstellungsbesucher wird dies mit der lebensgroßen Rekonstruktion von Dieter Luksch vor Augen geführt (Abb. 13). Noch diskutieren Experten darüber, ob das Verschwinden der Großfauna am Ende der Eiszeit vor allem mit dem Klimawandel zusammenhängt,
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oder ob Überjagung der Hauptauslöser war. Durch Datierungen gefundener Mammutkadaver lässt sich ermitteln, dass deren Population zum Ende der Eiszeit immer weiter in das Rückzugsgebiet des sibirischen Nordens abgedrängt worden ist. Als Zwergformen haben sie zuletzt bis vor etwa 5.000 Jahren auf der Wrangel-Insel im äußersten Nordostsibirien überlebt (Abb. 14). Für die These der Überjagung und gegen klimatische oder pathogene Ursachen (Krankheitserreger) spricht, dass es viele Arten nahezu gleichzeitig getroffen hat. Wollhaarnashorn, Riesenhirsch, der pleistozäne Bison, Höhlenbär, -hyäne und -löwe verschwinden als Arten vollständig vom Erdball. Ihre holozänen (nacheiszeitlichen) Nachfahren sind später eingewandert, und haben mit den eiszeitlichen Arten keinerlei genetische Gemeinsamkeiten. Jagten die Menschen inzwischen so effektiv, dass sie ihre tierischen Ressourcen überschätzten? Oder war Ruhm des Jagderfolges gar wichtiger als die Sorge um die Bestände? Sowohl Populationskontrolle, wie bei den Rentierjägern Alaskas, als auch reine Trophäenjagd auf Büffel ohne adäquate Nutzung sind von indigenen Völkern in Nordamerika aus
historischer Zeit bekannt. Eine Verallgemeinerung, Wildbeuter trügen stets Sorge, dass die Bestände nicht überjagt werden, bedient daher ein Stereotyp des „Edlen Wilden“. Die Speerschleuder des Magdalénien hat als Fernwaffe mit ihrer enormen Treffsicherheit bis etwa 20 oder 30 Meter sicher dazu beigetragen, dass selbst die flüchtigen Wildpferde bis etwa 12.000 v. Chr. nahezu vollständig ausgerottet wurden (Abb. 14). Dennoch war es die letzte große Zeit, in der Mensch und eiszeitliche Tierwelt eine nahezu
Abb. 14: Lebensgroße Rekonstruktion eines Mammuts von der Wrangel-Halbinsel, Nordostsibirien. Ausstellungen Luksch.
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Abb. 15a: Speerschleuder-Hakenende aus Rengeweih, wie sie im Pyrenäengebiet vor allem im mittleren Magdalénien gefunden wurden. Herstellung der Replik: Archäotechnik W. Hein.
symbiotische Beziehung innehatten, wie beeindruckende mythologische Darstellungen der Kleinkunst aus Mähren und Südwestfrankreich belegen können (Beiträge Oliva, Galetova und Kurz). Selbst wenn die relativ rasche Bewaldung während der ca. 1.000 Jahre andauernden AllerödSchwankung am Ende der Eiszeit zu einer Verdrängung der eiszeitlichen Tierwelt aus dem Lebensraum in nordöstliche Rückzugsgebiete geführt hat, hätten Arten dies ohne Überjagung wohl sehr wahrscheinlich überstanden. Doch eine weitere todbringende Waffe macht die Runde bei den Jägern Europas – wegen des nun zur Verfügung stehenden geeigneten Holzes, wie z.B. Wacholder. Es sind Pfeil und Bogen, die anhand gestielter Pfeilspitzen massenhaft nachgewiesen werden können. Ältere Steinspitzen könnten von ihrer schlanken Form her durchaus seit fast 30.000 Jahren auch für Bogenpfeile verwendet worden sein. Gegen eine solch frühe Spekulation über die Existenz des Bogens spricht jedoch, dass es keine einzige Abbildung dieser Waffe auf den Tausenden von Höhlen- und Kleinkunstszenen der Altsteinzeit gibt, stattdessen immer nur Speere
(vgl. Beitrag Kurz). Nur eine Bogenabbildung oder der Nachweis einer Pfeilspitze mit Schaft würde hier den Beweis erbringen können. Die ersten unzweifelhaften, weil vollständig erhaltenen Bogenpfeile stammen aus dem Stellmoor (nordöstlich von Hamburg), und sind ca. 10.000 v. Chr. während der letzten eiszeitlichen Kälteschwankung (der sogenannten Jüngere Tundrenzeit) auf Rentiere abgeschossen worden. Um 9.600 v. Chr. endet die Jüngere Tundrenzeit, und die Nacheiszeit (das Holozän) bringt schritt für Schritt den Wald zurück nach Mitteleuropa. Obwohl wir „Nacheiszeit“ sagen, ist das Holozän genau genommen eine weitere Zwischeneiszeit, auch wenn sie bis heute andauert. Denn auch die gegenwärtige Zwischeneiszeit ist – wie alle vorangegangenen Warmzeiten des Eiszeitalters – das Ergebnis der Schwankungen der globalen Sonneneinstrahlung, die in Größenordnungen von 5-10 Prozent liegen. Verschiedene Orbitalzyklen, das heißt veränderliche Erdbahnparameter, überlagern sich hierbei so, dass sich der Effekt etwa alle 100.000 Jahre besonders stark auswirkt. Demzufolge haben in den letzten 700.000 Jahren alle Warmzeiten
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etwa im Zyklus von 100.000 Jahren stattgefunden. Die letzte Warmzeit, die vor 130.000 Jahren begann und vor 115.000 Jahren endete, dauerte etwa 15.000 Jahre. Auch wenn uns die nächsten Jahrzehnte das Thema eines weltweiten und erstmals vom Menschen mit verursachten Temperaturanstiegs umtreiben wird, so ist eines bereits gewiss: Die nächste Eiszeit kommt bestimmt!
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Abb. 15b: Speerschleuder-Hakenenden aus Rengeweih, wie sie im Pyrenäengebiet vor allem im mittleren Magdalénien gefunden wurden. Herstellung der Repliken: C. Foppa.
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Der Löwenmensch
Die Elfenbeinstatuette aus dem Lonetal bei Ulm Kurt Wehrberger (Ulm)
Zwei Höhlen im Tal der Lone, zwei Höhlen im Achtal – und rund vierzig, meist nur fragmentarisch erhaltene Kleinplastiken aus Mammutelfenbein. Das ist bisher die „künstlerische“ Bilanz der archäologischen Forschungen in den Höhlen der mittleren Schwäbischen Alb. Die nur wenige Zentimeter großen Figuren sind vollplastisch, halbrund oder als Relief gearbeitet und stellen in der Regel Tiere wie Mammut, Wildpferd, Bison, Bär oder Löwe dar, die während der letzten Eiszeit auf der Schwäbischen Alb lebten. Nur die Hälfte der Figuren ist jedoch so erhalten, dass sie sicher oder annähernd zweifelsfrei identifiziert werden können. Der Rest besteht aus kleinteiligen Fragmenten, die eine nähere Ansprache meist nicht mehr gestatten. Es war eine Sensation, als 1931 bei der Ausgrabung der Vogelherdhöhle im Lonetal nordöstlich von Löwenmensch aus dem Lonetal.
Ulm in Schichten der Jüngeren Altsteinzeit Elfenbeinfiguren gefunden wurden. Erstmals war man nicht nur auf Werkzeuge, Waffen und Schmuck gestoßen, sondern auf Zeugnisse künstlerischen Schaffens von ungeahnter Qualität. Seit 1974 bis in die jüngste Vergangenheit wurden dann im Tal der Ach zwischen Schelklingen und Blaubeuren weitere Figuren entdeckt. Sie stammen aus den systematischen Grabungen des Instituts für Urund Frühgeschichte der Universität Tübingen in den Höhlen Geißenklösterle und Hohle Fels. Die vorläufig letzten Figurenfunde lieferten die Untersuchungen der Abraumhalde der Vogelherd-Grabung in den Jahren 2005/06: nicht nur zahlreiche kleinteilige Objekte wie Werkzeuge und Schmuck, die bei der ersten Grabung übersehen worden waren, sondern auch Figuren wie ein Löwe und eine nur 35 mm messende, vollständig erhaltene Mammutplastik.
Durch Radiokarbondatierungen an Tierknochen aus den jeweiligen Fundschichten sind die Figuren aus den Albhöhlen auf ein Alter zwischen 38.000 und 30.000 Jahren bestimmt. Sie datieren in einen frühen Abschnitt der Jüngeren Altsteinzeit (Aurignacien), der in Mitteleuropa mit dem ersten Auftreten des anatomisch modernen Menschen verknüpft wird, und stellen damit die weltweit älteste figürliche Kunst dar. Als spektakulärste Plastik unter den Elfenbeinfiguren von der Schwäbischen Alb gilt der sogenannte „Löwenmensch“, mit knapp 30 cm Höhe die mit Abstand größte aurignacienzeitliche Figur. Eine Reihe von Zufällen und Einfällen prägt die fast 50 Jahre lange Geschichte von seiner Ausgrabung bis zur Restaurierung. Spannend ist auch die Interpretation seiner fantastischen Gestalt, die in die geistig-religiöse
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Überschrift K. Wehrberger, Der Löwenmensch
Abb. 1: Der Hohlenstein-Stadel im Lonetal (Ausgrabung 1960).
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Sphäre der Menschen vor über 30.000 Jahren verweist. Im Juli 1937 hatte der Tübinger Anatom Robert Wetzel (1898-1962) im Anschluss an seine erfolgreichen Grabungen am Neandertaler-Rastplatz Bocksteinschmiede im Lonetal systematische Untersuchungen in der Stadel-Höhle am Hohlenstein, einem Felsmassiv am südlichen Talrand mit zwei Höhlen (Stadel und Bärenhöhle; Gde. Asselfingen, Alb-Donau-Kreis) aufgenommen (Abb. 1). Die örtliche Leitung der Grabungen am Hohlenstein, jeweils rund 2 km vom Bockstein wie vom Vogelherd entfernt, hatte Wetzel dem Geologen Otto Völzing (1910-2001) übertragen. Wider Erwarten stießen die Ausgräber auf bis zu 2,5 m mächtige Schichten von der Mittleren Altsteinzeit bis in die Nacheiszeit. 1938 und 1939 wurden die Ausgrabungen jeweils in den Sommermonaten fortgesetzt. Am 25. August 1939 standen sie unmittelbar vor dem Abbruch. Otto Völzing hatte den Einberufungsbefehl zum Militär erhalten, wenige Tage später begann der II. Weltkrieg. An diesem vorletzten Grabungstag wurden die Fundstücke aus dem 20. Abbaumeter im rückwärtigen Teil der Höhle geborgen und verpackt.
Die Grabungen am Hohlenstein nahm Robert Wetzel in den Fünfziger Jahren wieder auf. Von 1956 bis 1961 setzte er nicht nur die Untersuchung des Stadels fort, sondern erforschte auch die bereits im 19. Jahrhundert teilweise ausgegrabene Bärenhöhle. Bereits 1956 hatte er in einem Schenkungsvertrag sämtliche Funde aus seinen Ausgrabungen im Lonetal dem Museum der Stadt Ulm übereignet. So gelangten nach Wetzels Tod Tausende von Zigarrenkisten und etliche größere Kartons mit dem Fundmaterial der Grabungen in die Magazine des Ulmer Museums. Im Herbst 1969 begann der Archäologe Joachim Hahn (1942-1997) mit der Inventarisierung der Funde vom Hohlenstein-Stadel. Wenige Tage vor Abschluss seiner Arbeiten im Dezember öffnete Hahn einen Karton vom 25. August 1939, in dem außer Tierknochen zahlreiche Elfenbeinsplitter aus dem letzten Abbaumeter verwahrt waren. Die Beschriftung bezeichnete die Fundstelle: Eine Nische an der westlichen Felswand im Bereich einer kammerartigen Erweiterung, 27 m hinter dem Eingang in einer Tiefe von 100 bis 120 cm. Hahn erkannte an zahlreichen Frag-
menten Spuren von Bearbeitung. Innerhalb weniger Tage setzte er aus rund 200 Einzelteilen eine Figur zusammen, die sich von allen bis dahin bekannten altsteinzeitlichen Plastiken deutlich unterschied (Abb. 2). Mit annähernd 30 cm war sie im Vergleich zu den Figürchen aus der Vogelherdhöhle sehr groß. Ungewöhnlich war auch ihre Gestalt: ein langgestreckter, aufrecht stehender Körper mit zwei getrennten Beinen. Vom Kopf war zu diesem Zeitpunkt nur eine äußere Lamelle mit dem linken Ohr vorhanden. Aus seiner Form und Position schloss Hahn, dass die Statuette den Kopf eines Tieres, vielleicht eines Bären oder einer Raubkatze trug. Im oberen Bereich war der Rumpf auf der rechten Seite und im Rücken stark beschädigt. Dort fehlten größere Teile. Von den Armen war nur der linke erhalten. Auch im Bereich des Oberkörpers war die ursprüngliche Oberfläche abgeplatzt und verloren. „Der Ulmer Tiermensch – Aprilscherz oder Sensation?“, so war in der Wochenzeitung „Die Zeit“ anlässlich der ersten öffentlichen Präsentation der Statuette im März 1970 zu lesen. Rund zwei Jahre später, am Rand der Ulmer Tagung der
Abb. 2: Die Statuette nach der Entdeckung und Zusammensetzung 1969.
Hugo Obermaier-Gesellschaft zur Erforschung des Eiszeitalters, wurden weitere Elfenbeinfragmente bekannt, die nach dem Tod des Ausgräbers Robert Wetzel in dessen Arbeitszimmer an der Universität Tübingen gefunden worden waren. Sie konnten als Bruchstücke der Figur identifiziert werden, darunter ein Teil des Kopfes mit dem rechten Ohr und eine Lamelle des rechten Arms. Vielleicht hatte sich also bereits Wetzel mit einigen Elfenbeinlamellen vom August 1939 befasst, ohne den Gesamtzusammenhang zu ahnen. Man kann es fast als eine Ironie des Schicksals bezeichnen, dass gerade bei Wetzels Ausgrabung die bis heute größte
und geheimnisvollste Plastik jener Zeit entdeckt worden war, ohne dass die Forscher selbst davon wussten waren doch Ansporn und Auslöser ihrer Ausgrabungen im Lonetal die sensationellen Figurenfunde vom Vogelherd aus dem Jahr 1931. Näher begutachtet wurden die nachträglich aufgetauchten Funde erst im Frühjahr 1982 durch die Paläontologin Elisabeth Schmid (1912-1994), die sich bereits 1972 auf der Ulmer Tagung zur Hahnschen Zusammensetzung und Interpretation der Figur geäußert hatte. Sie setzte die Splitter aus Wetzels Arbeitszimmer provisorisch an die von Hahn zusammengefügte Statuette an. Bei den Teilen der Figur lagen außerdem zwei weitere bearbeitete Elfenbeinstücke, die zusammen mit einigen Knochenstückchen um 1974/75 angeblich oberflächig in der Höhle aufgesammelt worden waren. Eines dieser Teile konnte an den linken Fuß angepasst werden. Das zweite Fragment erwies sich als Teil der bis dahin fehlenden Schnauze mit dem tief eingekerbten Maul. Erst damit war die Physiognomie des Kopfes geklärt: Die Statuette trägt den Kopf einer Raubkatze. Im Zuge dieser Arbeiten wurden außerdem als falsch erkannte Klebungen der ersten Zusammensetzung korri-
giert (Abb. 3). Da aufgrund der geschilderten Umstände die Hoffnung bestand, in der Höhle noch weitere Teile der Figur zu finden, wurde 1983 eine kleine Nachgrabung im Bereich der Fundstelle durch Eberhard Wagner (1930-1999) anberaumt, die leider erfolglos blieb. 1987/88 konnte die Statuette in rund sechsmonatiger Arbeit in den Werkstätten des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart fachgerecht restauriert werden. Zunächst mussten alle Klebungen seit der ersten Zusammensetzung durch Joachim Hahn, der glücklicherweise einen acetonlöslichen Klebstoff verwandt hatte, wieder aufgelöst werden. Vom Kernzapfen aus fügte man die über 200 Bruchstücke dann sorgfältig neu zusammen, eine mühevolle Arbeit, die fotografisch, zeichnerisch und textlich umfassend dokumentiert wurde. Im Verlauf der Restaurierung wurde deutlich, dass auch aus dem Innern der Figur einzelne Elfenbeinlamellen fehlten. Mit einer reversiblen Substanz aus Bienenwachs, Kunstwachs und Kreide ersetzte man stellenweise Lücken im Bereich des Rumpfes und der Beine. Außerdem wurden Fehlstellen am Kopf ergänzt. Bewusst nicht an die Figur angesetzt sind Fragmente wie
z.B. Teile des rechten Armes und der rechten Oberkörperhälfte, deren genaue Lage nicht mehr ermittelt werden konnte (Abb. 4). Der Kopf ist zu etwa zwei Dritteln erhalten: Fast das komplette Hinterhaupt mit beiden Ohren, die Lamellen mit dem linken und rechten Auge sowie ein größerer Teil der Schnauze. Vom Kopf führt ein direkter Anschluss zum linken Arm der Figur. Dieser ist komplett und wie der nur in der äußersten Lamelle erhaltene rechte - leicht angewinkelt. Er setzt breit an der Schulter an, liegt eng am Körper und war ursprünglich wohl nur durch einen schmalen Einschnitt vom langgestreckten Rumpf getrennt. Am Übergang vom Arm zum Oberkörper ist deutlich zu erkennen, dass dort die Lamellen der originalen Oberfläche fehlen. Das gilt für die gesamte Vorderfront bis zum Schritt der Figur. Der Rücken der Figur ist im oberen Bereich beschädigt. Im unteren Bereich geht die Rückenlinie direkt in die Oberschenkel über. Sorgfältig ausgearbeitet sind Kniekehlen und Waden. Bemerkenswert sind die Knöchel an den Innenseiten der Füße. Die Fußsohlen sind schräg gestellt, so dass die Figur auf den Fußspitzen zu stehen scheint.
Abb. 4: Der „Löwenmensch“ nach der Restaurierung 1988.
50
K. Wehrberger, Der Löwenmensch
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a)
b)
Abb. 5 a-d: Die Statuette im Röntgenbild. Waagrechte Schnitte durch Kopf und Körper (a-c) und senkrechter Schnitt durch die Figur in Rückansicht (d).
Weitere Erkenntnisse zum Ausgangsmaterial und zum Herstellungsprozess lieferten Untersuchungen mittels eines 3D-Computertomografen im Rahmen eines Projektes mit der Hochschule Technik und Wirtschaft in Aalen 2003/04. Die Statuette ist aus dem Stosszahn eines jungen Mammuts geschnitzt, der an einem Ende die natürliche Höhlung für das Zahnmark aufwies. Um die gespreizte Beinstellung zu erreichen, schnitt man offenbar die Wandung der Pulpa an zwei gegenüberliegenden Seiten auf. Der Schritt der Figur entspricht somit in etwa dem spitz zulaufenden Ende der Markhöhle. In den Röntgenaufnahmen ist zu erkennen, dass vom Schnittpunkt beider Beine ein sich stetig verengender Nervenkanal durch die
c)
Figur zieht. Da er am Kopf hinter dem rechten Auge austritt, war die leichte Krümmung des Stoßzahnes beim Schnitzen teilweise ausgeglichen worden (Abb. 5). An mehreren Stellen der Figur, an denen die originale Oberfläche erhalten ist, blieben Spuren der Herstellung erhalten. Auf der Sohle des linken Fußes und an beiden Ohren sind feine Schnitzspuren zu erkennen. Auf dem linken Arm sind mehrere waagrechte, parallele Rillen eingeschnitten. Einige Bereiche der Figur wie z.B. die Maulpartie zeigen außerdem Spuren einer Politur. Insgesamt weist der „Löwenmensch“ weit mehr tierische als menschliche Merkmale auf. Der Raubkatzenkopf, der langgestreckte Rumpf, der Übergang vom Rücken
zu den Beinen ohne Darstellung eines Gesäßes und die wie Läufe gestalteten Arme sind Merkmale eines Tieres. Die Beine und Füße mit den Knöcheln dagegen können, ebenso wie die aufrechte Haltung, als menschlich interpretiert werden. Ob die Figur eventuell als Frau oder Mann gekennzeichnet war, ist aufgrund der Fehlstellen an der Vorderfront nicht mehr zu entscheiden. Die Kombination anatomischer Elemente ist nach unserem Verständnis keineswegs immer logisch. Es fällt z.B. auf, dass der linke Arm mit dem breiten Ansatz an der Schulter und seinen Konturen – der Linienführung am hinteren Teil mit der deutlich konkaven Einziehung am Unterarm, dem scharfen Knick zwischen Ober- und Unterarm und der ebenfalls leicht nach innen ziehenden Linie am Unterarm, der in einer Art Faust endet – nicht der Anatomie tierischer Vorder-, sondern der viel markanteren Hinterläufe entspricht. Interessant ist, dass die im Löwenmenschen vorliegende Kombination – Kopf, Rumpf und Arme = Tier/ Beine und Füße = Mensch – in den wenigen Tier/Mensch-Wesen der altsteinzeitlichen Wandkunst Westeuropas ihre Parallelen findet. Darstellungen wie der Zauberer
(Dieu cornu) von Les Trois Frères oder der Bisonmensch (L’hommebison) von Le Gabillou sind zwar wesentlich jünger. Stets ist es aber eine vergleichbare Kombination von menschlichen Beinen und Füßen mit dem Oberkörper und Kopf eines oder gar verschiedener Tiere. Vermutlich wurde die Figur nicht bereits in beschädigtem Zustand in der Höhle zurückgelassen, auch wenn sie bei der Ausgrabung sicher in sich bereits stark zerbrochen war. Die Fundumstände lassen eher den Schluss zu, dass nicht alle Fragmente erkannt und geborgen werden konnten. Vermutlich gehörte der „Löwenmensch“ zu einer Ansammlung von Objekten, die im rückwärtigen Bereich der Höhle deponiert worden waren. Denn aus der näheren Umgebung liegen weitere bemerkenswerte Objekte vor: Als Rohmaterial kann man über 60 dünne Stangen- und Sprossenfragmente von Rengeweih deuten. Dazu kommen Spitzen aus Geweih und Elfenbein als Bewehrung von Waffen und mehrere knöcherne Werkzeuge zur Fellbearbeitung. Zum Schmuck zählen eine Perle und ein Anhänger aus Elfenbein sowie einige fein durchlochte Zähne vom Eisfuchs.
d)
52
K. Wehrberger, Der Löwenmensch
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Bemerkenswert ist schließlich ein unbearbeiteter, ca. 50 cm langer Mammutstoßzahn, der während der Ausgrabung 1960 wenige Meter vor der Fundstelle der Statuette in etwas tieferer Lage entdeckt worden war. Ähnliche Proportionen hatte der Zahn, aus dem die Figur geschnitzt ist.
Abb. 6: Detailausschnitt des Titelbildes.
Das Alter des „Löwenmenschen“ ist durch mehrere Radiokarbondaten von Tierknochen aus der Fundschicht gesichert, die übereinstimmend eine Datierung von ca. 32.000 BP anzeigen. Damit ist die Statuette einer späten Phase des Aurignacien zuzuordnen. Auch wenn aufgrund des fragmentarischen Zustands etliche Fragen zur Gestalt unbeantwortet bleiben müssen: Die Verknüpfung tierischer und menschlicher Merkmale in einer fantastischen Figur ist vermutlich als Ausdruck mythologischer Vorstellungen zu werten. Sie lässt außerdem auf ein großes Abstraktionsvermögen schließen. Das gilt auch bei einer möglichen Deutung als Abbild eines Menschen, der sich Kopf und Extremitäten einer Raubkatze in Verbindung mit Teilen des Fells übergezogen hat. In diesem Fall könnte die Figur einen Schamanen oder eine Schamanin darstellen.
Schließlich seien unter den aurignacienzeitlichen Elfenbeinfiguren von der Schwäbischen Alb zwei Objekte erwähnt, die in Verbindung mit einer Deutung des Löwenmenschen von besonderem Interesse sind. Sowohl das Fragment einer winzigen Figur vom Hohle Fels als auch das Relief auf einem Elfenbeinplättchen vom Geißenklösterle scheinen ebenfalls ein Tier/Mensch-Wesen wiederzugeben. Auch wenn die geringe Größe wie der Erhaltungszustand keine sichere Identifikation zulässt, mag eine Spekulation erlaubt sein: Sollte es sich bei allen dreien um das Abbild ein und derselben fantastischen Gestalt handeln, dann spielte der „Löwenmensch“ zu Beginn der Jüngeren Altsteinzeit über einen längeren Zeitraum von vielleicht mehreren Jahrtausenden eine wesentliche Rolle in der Gedankenwelt der Menschen auf der Schwäbischen Alb.
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Elfenbein und Feuerstein
Zur Herstellung einer Replik des Pferdchens vom Vogelherd mit authentischen Werkzeugen
Wulf Hein (Dorn-Assenheim)
Die Karstlandschaft der Schwäbischen Alb war schon vor Urzeiten Anziehungspunkt für unsere Vorfahren, nicht zuletzt wegen der zahlreichen vom Wasser aus dem Kalkstein herausgewaschenen Höhlen, die in der damaligen Kältesteppe zeitweise Unterschlupf boten. Vor allem das Lonetal nordöstlich von Ulm wurde immer wieder von eiszeitlichen Jägern und Sammlern aufgesucht, wohl auch wegen seiner geschützten Lage und des damit verbundenen relativ günstigen Klimas und Wildreichtums. Nachdem sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass es den fossilen Menschen sehr wohl gegeben hatte, wurden auch im Lonetal archäologische Grabungen im größeren Stil und mit Erfolg durchgeführt. Doch die große Sensation sollte noch folgen, als der Heimatforscher H. Mohn im Mai
1931 auf der Kuppe des Vogelherdes im Aushub eines Dachsbaus mehrere Feuersteinsplitter entdeckte. Der umgehend verständigte Geologe Prof. Gustav Riek aus Tübingen grub die Vogelherdhöhle (Abb. 1) im selben Sommer vollständig aus, leider nach heutigen Maßstäben viel zu schnell und finanziell schlecht ausgestattet. Dennoch verdanken wir dieser Grabung einige der ältesten Tierplastiken, die je von Menschenhand geschaffen wurden. Aus dem unteren Horizont V, der die Stufe des sog. Aurignacien mit einem Alter von ca. 35.000 Jahren repräsentiert, konnten insgesamt sechs aus Mammutelfenbein geschnitzte Figürchen geborgen werden, zwei Mammute, ein Rentier, eine Großkatze (Löwe oder Panther?), ein Bär (oder Nashorn?) und eben das berühmte Pferd (Abb. 2). Dieses Meisterwerk steinzeitlicher Kleinkunst misst nur 4,8 cm und stellt wohl einen Hengst in
Abb. 1: Vogelherdhöhle im Lonetal.
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W. Hein, Elfenbein und Feuerstein
Abb. 2: Pferdefigur aus der Vogelherdhöhle.
Abb. 3: Verwendete Feuersteinwerkzeuge: Repliken von Typen des Aurignaciens.
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typischer Imponierhaltung dar. Die übertriebenen Rundungen und der akzentuierte Umriss sind chrarakteristisch für den künstlerischen Stil dieser Epoche. Besonders der Kopf ist sehr detailreich wiedergegeben. Augen, Ohren, Maul und Nüstern sind sehr fein aus dem harten Elfenbein herausgearbeitet worden. Die Mähne ist durch mehrere parallele Ritzungen auf dem Kamm angedeutet, auf der Kruppe finden sich mehrere kreuzförmige Einkerbungen. Die Beine liefen ursprünglich unten zusammen und waren von beiden Seiten durchbohrt, eventuell wurde die Figur also an einem Lederband um den Hals getragen.
Die Frage nach den Schöpfern dieser einmaligen Plastiken schien bis vor kurzem geklärt, man war unwiderruflich davon ausgegangen, dass der moderne Mensch vom Typ Cro Magnon, dessen Anwesenheit Riek nicht nur in Form von Steinwerkzeugen und Geräten, sondern auch mehreren Skelettresten nachgewiesen zu haben glaubte, im Aurignacien die Höhle zeitweise benutzt und die Kunstgegenstände geschaffen hatte. Eine inzwischen vorgenommene Neudatierung der Knochen ergab jedoch ein „enttäuschendes“ Alter von weniger als 5.000 Jahren, so dass zunächst unklar war, ob nicht etwa der Neandertaler, der vorher (und eventuell zeitgleich?) denselben Raum besiedelt hatte, als Urheber der Schnitzereien infrage kommt. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass es wohl stärker als angenommen zu nachträglichen Vermischungen der Fundhorizonte gekommen ist. An der Zuordnung der Figürchen in das Aurignacien besteht aufgrund der Formensprache und der Ähnlichkeit mit den Skulpturen aus den Höhlen des Achtals jedoch kein Zweifel. Jedenfalls wundert es nicht, dass die Vollplastik ein Pferd darstellt, denn diese Tierart war mit mindestens 22
Individuen eine der am häufigsten vertretenen Jagdbeuten im Aurignacien des Vogelherdes. Hinsichtlich der Bedeutung des „Pferdle“ gehen die Meinungen aber sehr weit auseinander: Schmuck, Glücksbringer, Jagdamulett, Hausgott, Kinderspielzeug, astronomische Darstellung, anatomisches Lehrobjekt ... Einfacher nachzuvollziehen ist die Herstellung, wie die hier vorgestellte Replik zeigt. Zunächst gilt es, ein geeignetes Stück Elfenbein zu beschaffen. Ob die Menschen der Steinzeit dazu alte Stoßzähne aufsammelten oder frische von Jagdbeuten verwendeten, lässt sich nicht mehr klären. Entweder nutzt man ein Stück, das vom Umriss her annähernd dem geplanten Objekt entspricht, oder man schlägt ein passendes Stück zu. Dazu kann man einen Stoßzahn mittels eines großen Steins willkürlich zertrümmern oder aber den Zahn durch Anbringen von Querkerben planvoll in Abschnitte zerteilen. Elfenbein lässt sich entlang seiner jahrringartigen Struktur sehr gut der Länge nach spalten. Der leicht gebogene Querschnitt der Pferdefigur deutet meiner Ansicht nach darauf hin, dass es sich um ein Rohstück aus einer Lamelle vom Randbereich eines Zahnes handelt. Für die vor-
liegende Arbeit habe ich fossiles Mammutelfenbein verwendet. Die Feuersteingeräte des Aurignacien, wie sie im Vogelherd gefunden wurden, bieten ein reichhaltiges Sortiment an Werkzeugen wie Stichel, Schaber und große Klingen (Abb. 3). Damit lässt sich das sehr harte Mammutelfenbein problemlos in die gewünschte Form bringen. Mit einer großen Klinge sägt/raspelt man den Rohling, wo nötig, entsprechend zu (Abb. 4). Anschließend wird mit dem Stichel die Oberfläche sehr fein abgespant. Hierzu benutzt man die rechtwinklige Kante der Stichelbahn (Abb. 5). Elfenbein besteht aus feinen Kalkkristallen, die durch Collagen zusammengehalten werden, es lässt sich aufgrund seiner Härte und seiner Elastizität sehr gut bearbeiten. Allerdings muss, ähnlich wie bei Holz, die Arbeitsrichtung immer wieder der faserigen Struktur des Materials angepasst werden. Wenn man gegen den Faserverlauf schnitzt, wird die Oberfläche rau und grob (Abb. 6). Besonders das Ausarbeiten der Details wie Nüstern oder Ohren erfordert große Sorgfalt, denn sowohl Elfenbein als auch Feuerstein neigen bei zu starker Beanspruchung zum
Abb. 4: Zuraspeln des Rohlings.
Abb. 5: Abschaben.
Abb. 6: Zuschnitzen.
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W. Hein, Elfenbein und Feuerstein
Abb. 7: Detailarbeit.
Abb. 8: striae und ripple marks.
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Splittern. Mit feinsten Werkzeugspitzen muss hier vorsichtig Schicht um Schicht an Material weggenommen werden (Abb. 7). Nach dem Zuschnitzen haben die steinzeitlichen Künstler die Objekte wohl noch abschließend geglättet, denn Silexwerkzeuge hinterlassen, wenn sie schartig werden, auf der Oberfläche des Werkstücks feine Kratzer, sogenannte striae, und typische Rattermarken (ripple marks), die durch die Eigenschwingung des Werkzeuges entstehen und öfter auf urgeschichtlichen Gegenständen aus organischem Material zu beobachten sind (Abb. 8). Zum Glätten eignet sich ein Stück Kalkstein, mit dem man grobe Unebenheiten abschleift, anschließend erfolgt eine Politur mit Gesteinsmehl, Fett oder Spucke und einem Lederstück. Die benötigte Arbeitszeit für das Pferd beträgt etwa 35 Stunden, wobei diese Zahl im Grunde keine Aussagekraft besitzt, da wir die Arbeitsverhältnisse im Aurignacien nicht kennen und nicht wissen, wie groß das verwendete Rohstück war. Auch stellt die vorliegende Rekonstruktion keine exakte Kopie des Originals dar.
Die Silexwerkzeuge mussten während der Arbeit sehr oft nachgeschärft bzw. ersetzt werden, da sie durch die starke Beanspruchung durch das harte Elfenbein sehr schnell abnutzten bzw. stumpf wurden. Die Arbeit mit Stein und Bein gestaltete sich sehr entspannt, obwohl die Werkzeuge auf Dauer Blasen an den Fingern verursachen, weil sie sehr scharfkantig sind. Bei weiteren Versuchen zeigte sich, dass es von Vorteil ist, das Elfenbein vor der Bearbeitung in Wasser einzulegen, um es weicher und für die Bearbeitung besser zugänglich zu machen, wie der Tübinger Archäologe Joachim Hahn es schon vor 20 Jahren ausprobiert hat. Es genügt, das Werkstück kurz zu wässern, so dass nur die oberste Schicht aufweicht. Diese wird – wo gewünscht - dann entfernt und der Vorgang wiederholt. Mir ist im Übrigen aufgefallen, dass die Formgebung der Figur am besten bei einer einzelnen künstlichen Lichtquelle funktioniert, in diesem Fall im Dunklen am Lagerfeuer. Durch den scharfen Schattenfall kann man die Konturen der Figur genau erkennen und die Arbeit besser kontrollieren. Bei der Rekonstruktion konnte ich
die Hingabe des eiszeitlichen Schnitzers an sein Werk und seine reiche Kenntnis der ihn umgebenden Fauna spüren, und noch heute erstaunt uns die Ausdrucksstärke und elegante Linienführung dieser kleinen Figürchen, die zu den kostbaren Schätzen der Menschheit gehören.
Literatur: Hahn, J. (1986), Kraft und Aggression. Die Botschaft der Eiszeitkunst im Aurignacien Süddeutschlands? – Archaeologica Venatoria 7. Tübingen.
Abb. 9: Rekonstruktion des Pferdchens aus der Vogelherdhöhle.
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Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren Martin Oliva (Brno)
Detail des Stoßzahns von Předmostí, Frauengravierung.
Das Gravettien (Pavlovien) ist die Zeit, aus der die ältesten Kunstgegenstände Mährens stammen. Ohne Zweifel hat sich auch im Pavlovien der Großteil der Kunstwerke nicht erhalten, da sie auf vergänglichen Materialien angebracht waren, wie Leder- und vielleicht auch Textilkleidung mit deren Dekorationselementen sowie Kunstwerke aus Holz. Wir können auch nicht beurteilen, welche künstlerischen Aspekte in der Komposition des geläufigen Schmucks wie durchbohrten Zähnen oder Schalen tertiärer Schnecken zum Ausdruck kamen, die leider nie vollständig erhalten geblieben sind. Die einzige Ausnahme bildet das Paar gekreuzter Fuchseckzähne auf dem kalzinierten Schädel des Kindes von Dolní Věstonice (DV 4) (Klíma 1990). Zu den Schmuckstücken gehören auch einige Gegenstände aus Mammutelfenbein, auf welchen eine gewisse ästhetische Gestaltung zu
beobachten ist, z.B. Garnituren verzierter Zylinder und Plättchen aus Dolní Věstonice I, doppelter Perlen aus Předmostí und Pavlov oder fein geschnitzte Ringe (Fingerringe?) aus Pavlov I. Auf anderen Gegenständen mit Schmuckfunktion sind die Zierelemente fortgeschrittener, so dass sie als künstlerischer Ausdruck gewertet werden können. Es handelt sich besonders um zoomorphe Scheiben mit Öffnungen, mondartige Anhänger, flache Fibeln und so genannte „Stirnbänder“ aus Pavlov, gynekomorphe Anhänger aus Dolní Věstonice I, Fibeln und verzierte Anhänger aus Předmostí. Zu Zierden kann jedoch nicht die Garnitur von Scheibchen und Plättchen aus verschiedenen Rohstoffen gezählt werden, die aus dem sogenannten Schamanengrab Brno 2 stammen (Oliva 2000). Obwohl sie sehr fein bearbeitet sind, ist ihre Verzierung in Form von kleinen Randrillen sehr unauffällig und bis auf eine
Abb. 1: Grab Brno 2, polierte Plättchen aus Mammutmolar (Durchmesser 3,3 cm).
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M. Oliva, Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
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einzige Ausnahme haben sie keine Öffnung oder Öse zum Anhängen. Die Bedeutung dieser unikaten Artefakte war sehr wahrscheinlich nur den Schamanen selbst bekannt, was jedoch ihren künstlerischen Wert aus heutiger Sicht keinesfalls senkt. Bemerkenswert ist vom technischen Gesichtspunkt das Scheibchen aus Mammutbackzahn, d.h. aus sehr hartem Material, wo polierte Schichten von Dentin und Zahnschmelz ein symmetrisches Bild zeigen, das an das weibliche Geschlecht erinnert (Abb. 1).
Abb. 2: Pavlov I, untersuchte Flächen mit wichtigsten Funden (zusammengestellt nach B. Klíma u. a.).
Artefakte, die bei allen möglichen ursprünglichen Funktionen dem heutigen Menschen das künstlerische Gefühl ihres Schöpfers verraten, stammen nur aus den vier größten pavlovien-zeitlichen Siedlungen von Předmostí, Dolní Věstonice I, Pavlov I und Petřkovice I. Der Zusammenhang des Niveaus der Kunstgegenstände mit der Intensität der Besiedlung der betreffenden Fundstellen ist jedoch nur zu vermuten, weil sich in den Oberflächen-Fundstätten kein organisches Material erhielt. Auf kleineren Fundstätten mit erhaltenen Knochen fehlen Kunstgegenstände ebenfalls (Dolní Věstonice II, Pavlov II, Milovice, Jarošov II, Boršice).
Abb. 3: Dolní Věstonice I, abstrakte Frauenfiguren aus Elfenbein (Länge 8,4/ 8,6 cm).
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M. Oliva, Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
Abb. 4: Předmostí, Frauengravierung auf dem Stoßzahn (Gesamtlänge 28 cm).
Die pavlovien-zeitliche Kunst stimmt in den Grundzügen ihres künstlerischen Gehalts mit dem sog. „Ostgravettien“ überein, doch weisen einzelne Siedlungen gewisse Besonderheiten auf. In Pavlov sind es flache Figuralsilhouetten und verzierte Stirnbänder (Abb. 2, z.B. Flächen 1952-53, 1956a-b), in Dolní Věstonice eigenartige Frauenstatuetten (Venus von Věstonice) und stilisierte Plastiken weiblicher Körperteile (Abb. 3), in Předmostí Schnitzereien schwangerer Frauen aus Mammutmetapodien. Zahlreiche Figürchen aus gebranntem Ton kommen nur in Dolní Věstonice I und Pavlov I vor. Alle erwähnten Fundstätten haben gemeinsam, dass nur abstrakte geometrische Ziermotive vorkommen. Aus dem ganzen Repertoire der gravettienzeitlichen Kunst wurde also lediglich ein gewisser Ausschnitt verwendet. Die nächste Analogie grob gefertigter Frauenstatuetten und der Mammut-Schnitzerei zu Předmostí ist in Avdejevo zu finden (Abramova 1962), wo geometrisch verzierte Stirnbänder vorkommen, die an ähnliche Funde aus Pavlov erinnern (Gvozdover 1995, Abb. 39, 75-76). Regionale Unterschiede sowie überregionale Analogien der Gravettien-Kunst sind als Ausdruck
65
stilistischer Mittel der sozialen Adaptation zu interpretieren (Conkey 1985). In allen drei wichtigsten Siedlungsagglomerationen des Pavlovien kommt häufig das geometrische Dekor zum Vorschein, das auf Knochen und vor allem auf Mammutelfenbein, aber sehr selten auf gebranntem Ton oder Stein angebracht ist. Auf Steinplatten und Anhängern aus Pavlov I, II und Dolní Věstonice I und II kommen höchstens kurze Einschnitte oder chaotische Rillen vor. Auf erhaltenem organischem Material beobachtet man meistens kurze parallele senkrechte oder schräge Rillen, mehrfache Sparren, „Fischgrätenmuster“, Bögen, Wellenlinien, Ovale u.ä. Die Existenz von Motiven, die nur für eine einzige gewisse Lokalität charakteristisch wären, ist nicht zu beweisen, da jedes Motiv unikat ist. Diese Motive durchdringen sich lose, ergänzen sich gegenseitig und kummulieren sich in Feldern, so dass keines leer bleibt, ganz nach dem Prinzip des „horror vacui“. Während Ziergegenstände, zum Beispiel Anhänger oder Stirnbänder, als Ganzes, in ihrer Gesamtform streng symmetrisch sind, ist das Dekor immer deutlich asymmetrisch. Einige
Kompositionen sind so kompliziert, dass man versucht ist, darin eine Darstellung oder sogar Information zu suchen. Dies ist der Fall bei der extrem komplexen Gravierung auf dem Mammutstoßzahn aus Pavlov (die an gegenwärtige Graffiti-Kunst erinnert), die B. Klìma (1987, 40, 68) als die Karte der Landschaft unter den Pollauer Bergen mit Hügeln und dem Fluss in der sumpfigen Aue interpretiert (Abb. 2 Mitte rechts). Die Lage der Siedlung soll ein Doppelring bezeichnen. Beobachtet man nur das betreffende Artefakt, dann scheint die angeführte Interpretation akzeptabel zu sein. Das eingehende Studium der Semantik der gravettien-zeitlichen Gravierungen senkt jedoch ihre Wahrscheinlichkeit. Bis auf ein oder zwei Ausnahmen spiegeln sie nie ein konkretes naturalistisches Thema wider: es liegen keine gravierten Tier- oder Menschendarstellungen vor, keine Geschlechts- oder Jagdsymbolik wurde erkannt. Die erwähnte Ausnahme bildet die unikate Gravierung der Frauenfigur aus Předmostí, die aus selbständigen Ovalen, Punkten und Linien zusammengestellt ist (Abb. 4). Die Vorstellungskraft des paläolithischen Künstlers überragte hier geläufige Konventionen und schuf
eine geniale Synthese abstrakter und konkreter Motive. Eine Besonderheit von Dolní Věstonice und Pavlov I stellen die berühmten Plastiken aus gebranntem Ton dar. Frauenstatuetten aus Dolní Věstonice weisen einen einzigartigen lokalen Stil auf; nie ist erstaunlicherweise das Geschlecht dargestellt. Die Oberschenkel sind vom Gesäß und Bauch durch eine tiefe Rille getrennt und von der Wirbelsäule, die durch eine vertikale Vertiefung angedeutet ist, gehen dicke Fettfalten schräg nach unten (Abb. 5). Die Beine sind voneinander durch eine senkrechte Rille getrennt. Weitere Details fehlen, und der Bereich der Füße am verjüngten unteren Ende ist nicht erhalten. Ähnlich sind auch die Arme gestaltet. Den unteren Rückenteil der Venus von Věstonice berührte wohl die Hand eines etwa zehnjährigen Heranwachsenden (Králík et al. 2002). Für die Köpfchen aus Pavlov sind wieder die bikonische Form und eine Art Stirnband typisch, das manchmal schräg schraffiert ist und wohl in Zusammenhang mit dem unikaten Vorkommen verzierter Stirnbänder gestellt werden könnte (Abb. 2, vgl. Fläche 1961 und 1957). Eine andere Bedeutung als anthropomorphe Artefakte hatten ohne
Abb. 5: Dolní Věstonice I, Venus 1, Keramik (Länge 11,5 cm).
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M. Oliva, Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
Abb. 6: Dolní Věstonice I, Raubtierköpfchen mit Einsatzdorn? (Länge 4,7 cm).
Abb. 7: Dolní Věstonice I, Löwenkopf mit Wunden (Länge 4,5 cm).
67
Zweifel Tierfigürchen, was jedoch nicht bedeutet, dass es sich nur um Jagdmagie handelte. Die Hauptrolle spielten hier wohl verschiedene totemische und schamanistische Konnotationen (vgl. Clottes & Lewis-Williams 1996). Wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, konnte der urzeitliche Jäger eher das abbilden, was er an Tieren bewunderte – die aggressive Kraft der Raubtiere, die Mächtigkeit der Mammute, die natürliche Schönheit der Pferde, Hirsche, Rentiere, eventuell Vögel. Er mied gewöhnliche banale Themen, so dass z.B. die Darstellung von Hasen, der häufigsten Beute, nie vorkommt. Die immer noch beliebte Suche nach Unterschieden zwischen der gejagten und dargestellten Fauna ist ein Relikt aus der Zeit der Betonung der Jagdmagie und sie scheint mir sinnlos zu sein – auch in späteren Zeiten wurden Kühe und Schweine nicht vorzugsweise dargestellt. Es ist möglich, dass die Darstellung einiger der ästhetisch oder anders wirkungsvollen Tierarten durch eine eventuelle Tabuisierung verhindert wurde (im Pavlovien fehlen praktisch völlig Pferde- und Bovidenmotive, die später in der Magdalénien-Kunst sehr beliebt waren). Besonders gelungen sind
Raubtierköpfchen mit strichartigen Augen, deren Körper nie gefunden wurden; vielleicht wurden sie nicht gebrannt und zerfielen bald. Davon würde ein stumpfer Dorn im Hinterhaupt zeugen (Abb. 6). Als Beweis für die Jagdmagie wurde der tiefe Einstich im Köpfchen eines katzenartigen Raubtiers interpretiert (Abb. 7), das jedoch sicherlich nicht zu beliebten Jagdtieren gehörte. J. Jelínek (1988, 209) meint, dass die Tierstatuetten absichtlich vernichtet wurden, und zwar sowohl nach dem Brand als auch davor, da einige davon Spuren eines Schlags im weichen Zustand aufweisen. Ob Zerstörungsrituale stattgefunden haben oder auch nicht, so kamen dennoch die meisten Tierplastiken und vor allem einfache, modellierte Schollen in der Nähe der Feuerstellen vor, die manchmal kamin- oder ofenartig gestaltet waren. In der Umgebung des Ofens mit teilweise erhaltenem Gewölbe in der Hütte Nr. 2 in Dolní Věstonice befanden sich mehr als 2.000 Keramikscherben (Klíma 1963). Eine andere Feuerstelle, die mit 1.300 Stücken von gebranntem Ton umgeben war, entdeckte B. Klíma in der 3. Siedlungseinheit von Pavlov. Von neueren Spezialuntersuchungen ist die Analyse der Fingerabdrücke aus
der pavlovien-zeitlichen Keramik erwähnenswert. Diese zeigte, dass die meisten Abdrücke von Kindern stammen (Králík & Novotný 2005). Die letzte wichtige Gruppe der Pavlovien-Kunst, obwohl wegen der anspruchsvollen Herstellung weniger zahlreich, bilden figurative Schnitzereien. Aus technologischer Sicht können sie in Silhouetten, die von der Lamelle des Stoßzahns herausgehen, sowie dreidimensionale Skulpturen gegliedert werden. In die erste Gruppe gehören Silhouetten von Menschen, Mammuten und eines Löwen im Sprung aus Pavlov (Abb. 2, Fläche 1954b) und die sog. Maske mit strichartig angedeutetem Gesicht aus Dolní Věstonice I (Abb. 8). Im Unterschied zu den Magdalénien-Plastiken ist hier die Frau immer en face dargestellt. Durch dieselbe Technik sind in Pavlov auch figurative Anhänger mit großer Öffnung verfertigt (Abb. 2, Fläche 1952-53, 1956a), die manchmal an einen Eulenkopf erinnern. Die Gruppe dreidimensionaler Skulpturen ist mit drei Artefaktentypen vertreten a) Teilweise Frauenplastiken aus Mammutelfenbein aus Dolní Věstonice I: sog. Gabel mit dargestellter pubischer Rille, geometrisch verziertes Stäbchen (beide Abb. 3)
Abb. 8: Dolní Věstonice I, „Maske“ aus Elfenbein (Länge 4 cm).
68
M. Oliva, Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
Abb. 9: Dolní Věstonice I, stilisierte Frauenbrüste mit Öse auf der Rückseite (Breite 2,7 cm).
und Anhänger mit Brüsten (Abb. 9). Die Gabel und die Anhänger sind zum Tragen an einer Halskette angepasst, was auch beim Stäbchen mit Brüsten nicht ausgeschlossen ist, denn sein Oberteil ist mit Gips ergänzt (vgl. sein ursprünglicher Zustand im Fundtagebuch, Oliva 2005, 74). b) Grobe gefertigte Schnitzereien der Torsos schwangerer Frauen aus Mammutmetapodien, die während der I. Grabungsetappe in
69
Předmostí gefunden worden sind (Valoch 1969). c) Den dritten Typ bilden realistischere dreidimensionale Plastiken, z.B. die für das Gravettien typischen „Venus“-Figuren. Im Pavlovien fehlt aber dieser Typ bisher weitgehend; anzuführen ist nur die ganz unikate männliche Puppe aus dem Grab in der Francouzská-Straße in Brno (Abb. 10), das berühmte Köpfchen aus Dolní Věstonice (Abb.11), ein grober stabförmiger Torso (Abb. 2, Fläche 1953 links) und wohl ein Paar Halbfabrikate aus Pavlov sowie eine perfekte Mammutschnitzerei aus Předmostí (Abb. 12). Die letzgenannte steht jedoch dank der verwischten dritten Dimension an der Grenze zwischen Silhouetten und vollständigen Plastiken. Dasselbe gilt auch für den Frauentorso aus Dolní Věstonice mit sehr deutlich dargestellten Geschlechtspartien (Abb. 13), in welchen K. Absolon (1949, 296) die sog. Hottentottenschürze zu sehen glaubte, d.h. die künstlich lang gezogenen Schamlippen. In der paläolithischen anthropomorphen Kunst werden gewöhnlich Symbole der Fruchtbarkeit, Erotik, des ästhetischen Ideals und der Prosperität gesehen. In der Urzeit können
tatsächlich alle angeführten Vorstellungen Einsichten im beträchtlichen Maße zusammengeflossen sein: der erfolgreiche Jäger präsentierte sich mit einer gutgenährten Frau, die sich einem bestimmten ästhetischen Ideal nähern konnte (Frisch 1988; Jelínek 1988, 220). Nur wenige Venus-Figuren weisen Schwangerschaftsmerkmale auf (meistens handelt es sich um die bloße Dickleibigkeit oder Steatopygie – die Wucherung des Bauchs und des Hinterteils) und auch eine übertriebene Fruchtbarkeit war bei der nomadischen Lebensweise der Jäger nicht wünschenswert. Bei den meisten Plastiken sind die primären Geschlechtsmerkmale, zum Unterschied von den sekundären, nicht betont (und oft nicht einmal angedeutet). Die Beliebtheit dieser Figürchen weist eher auf eine zuverlässige Mutter – d.h. Ernährerin und Betreuerin – hin als auf ein ästhetisches, erotisches oder prokreatives Ideal. Auch die sorgfältige Darstellung der Haartracht und Zierden entsprechen eher der weiblichen Sicht. Einige Statuetten können als Amulette gedient haben, andere wurden in Grübchen und Feuerstellen versteckt. Nie kommen sie in Gräbern vor. Die sexuelle sowie prokreative Interpretation
der gravettien-zeitlichen, anthropomorphen Kunst widerspricht einigermaßen der Tatsache, dass darin die Darstellung des Koitus und der männlichen Zeugungskraft in Form selbständiger Phallen total fehlt – in der späteren Magdalénien-Kunst ist es das Gegenteil. Die einzigen männlichen Geschlechtsmerkmale des mährischen Pavloviens gibt es auf den erwähnten Plastiken männlicher Figuren aus Dolní Věstonice I und Brno II. In der Pavlovien-Kunst fehlt manches davon, was die damaligen Rohstoff- und technischen Bedingungen zu schaffen erlaubt hätten: deutliche Tiergravierungen, Geweihschnitzereien, gravierte Motive auf nicht-keramischen zoomorphen Plastiken, obwohl die geglätteten Flächen der Tiersilhouetten aus Pavlov zu einer Gravierung direkt herausforderten. Es ist interessant, dass diese komplizierten geometrischen Muster nie auf gebräuchlichen Waffen (zylindrischen Spitzen, Abb. 14) und Werkzeugen vorzufinden sind; wieder zum Unterschied zu magdalénien-zeitlichen Waffen). Bei den Geweih-Hacken aus Pavlov kommt das ausgeprägteste Dekor aus Reihen schräger Rillen bei den kleinsten, d.h. am wenigsten funktionalen Exemplaren vor (Klíma
Abb. 10: Brno 2 Grab, männliche Marionette (Länge des Körpers 13,5 cm).
70
M. Oliva, Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
Abb. 11: Dolní Věstonice I, Köpfchen aus Elfenbein (Höhe 4,8 cm).
Abb. 12, rechts: Předmostí, Mammutplastik aus Elfenbein (Länge 11,6 cm).
1987b, fig. 30-35). Einige besondere verzierte Artefakte weisen jedoch Spuren einer Glättung auf, die einen Teil des Dekors verwischt hat. Auf der vertieften Partie eines langen Löffels aus Dolní Věstonice I ist ein Teil des Zierrillen an den Rändern des breiteren Teils und auf dem rechten Rand des engeren Teils verwischt. Auch die flächig verzierte Rippe aus Předmostí (Valoch 1975, Taf. VIII) ist auf dem breiteren Ende durch intensives Glätten abgerundet, und ein Teil des Dekors auf den Seiten des engeren Endes, dessen Fortsetzung fehlt, ist durch das häufige Halten in der Hand abgeglättet. Komponierte geometrische Motive, aber nur die nicht-anatomischen, sind durch zwei Plastiken von Frauenbrüsten aus Dolní Věstonice (Abb. 3 links und 9) ergänzt. Die beiden Gegenstände werden auch für männliche Geschlechtssymbole (Kehoe 1991) oder synthetische Darstellungen weiblicher und männlicher Merkmale gehalten (Svoboda 1995, 265). Obwohl solche bisexuellen Darstellungen der paläolithischen Kunst nicht fremd sind (z.B. Mussi 1995, 173, 179), bin ich der Meinung, dass in diesem Fall das männliche Merkmal nicht ausgeprägt genug ist und anatomische Details vermissen lässt (vgl. McDer-
mott 1996). Auf dem verzierten Anhänger ist dagegen zwischen den beiden Brüsten eine abgegrenzte dreieckige Form mit senkrechter Rille zu beobachten, die an das weibliche Schamdreieck erinnert – es könnte sich also um eine synthetische Darstellung weiblicher Geschlechtsmerkmale handeln. Wegen der Abwesenheit zoomorpher Gravierungen fehlen im Pavlovien auch Gruppenszenen, die aus dem Magdalénien gut bekannt sind, wo Tiergravierungen das häufigste abgebildete Genre darstellen. In einfacher keramischer Modellierung oder Plastik aus Mammutelfenbein ist die Darstellung einer Tiergruppe praktisch ausgeschlossen. Diese technischen Hindernisse sind jedoch ohne Zweifel sekundär, denn die urzeitliche bildende Technik passte sich immer der Ideologie an und nicht umgekehrt. Von ideologischen Unterschieden gegenüber dem Magdalénien zeugt die Abwesenheit ergänzender symbolischer Zeichen bei Figuralmotiven, obwohl das Material sowie die Techniken das zulassen würden. Eine Ausnahme von dieser Regel könnten nur die Öffnungen im Scheitel der Venus von Dolní Věstonice I darstellen. In einem Fall – auf dem
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M. Oliva, Kunst und Schmuck des Gravettien in Mähren
Abb. 13: Dolní Věstonice I, Frauentorso aus Elfenbein (Höhe 4 cm).
gravierten Mammutstoßzahn aus Předmostí –ist die ganze weibliche Figur aus geometrischen Motiven zusammengesetzt. Das Bild ist so kompliziert, dass es sogar vom Finder nicht erkannt und Kopf über abgebildet worden ist (Kříž 1903, 221). Es ist nicht auszuschließen, dass der Schöpfer dieser Figur unter dem Einfluss halluzinogener Drogen stand (Pokorný 1982). Neben diesen esoterischen, hochkomplizierten Kompositionen gab es standardisierte Frauen- und Tierfigürchen, hauptsächlich aus Ton, deren Bedeutung dem breiteren Publikum wohl verständlicher war. Eine bestimmte Rolle spielte hier sicherlich auch der unterschiedliche Arbeitsaufwand für die Herstellung der Gegenstände beider Gruppen. Während eine keramische Plastik bei genügender Fingerfertigkeit in ein Paar Minuten modelliert werden kann, dauert die Anfertigung einer kleinen Schnitzerei aus Mammutelfenbein nach durchgeführten Experimenten Dutzende Stunden (Hahn 1986, 65-69). Die strenge Kanonisierung der Gravettien-Kunst ragt besonders im Vergleich mit der bildenden Kunst des Magdalénien hervor, wo Genres, Motive und Techniken viel
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loser kombiniert und auf Gegenständen ritueller sowie profaner Bestimmung verwendet wurden.
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Abb. 14: Předmostí, Pickel aus Elfenbein (Länge 9,5 cm).
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Die Magdalénien-Kunst in Mähren Martina Lázničková-Galetová (Brno) Mähren liegt an der Ostperipherie des Magdalénien-Komplexes. Die Fundstellen konzentrieren sich vor allem in den Höhlen des Mährischen Karstes, wo archäologische Grabungen seit dem Jahr 1868 durchgeführt werden. Magdalénien-Schichten wurden in 25 Fundstellen meistens innerhalb der Höhlen angetroffen. Kunst erscheint in Mähren ausschließlich in Form von beweglichen Gegenständen, im Gegensatz zur Höhlenkunst im Zentrum des Technokomplexes des Magdalénien. In diesem Aufsatz soll es um Gegenstände aus Geweih und Knochen gehen, vor allem um technologische und stilistische Aspekte ihrer Herstellung. Die Mehrzahl der Kunstgegenstände in Mähren lieferte die Pekárna-Höhle (Schichten G und H, Datierungen 12.940 ± 250 BP und 12.670 ± 80 BP). Weitere vier Fundstellen, aus welchen Kunstgegenstände stammen, sind Pekárna-Höhle (Mährischer Karst) – Die berühmteste Magdalénian-Fundstelle Mährens
die Höhlen Rytířská, Křížova, Kůlna und Býčí skála, aus denen jedoch lediglich sehr wenige bzw. ein einziges Exemplar stammen. Andere Fundstätten lieferten nur sporadisch Schmuckgegenstände. Bewegliche Kunstgegenstände sind hauptsächlich aus hartem Tiermaterial hergestellt worden – das sind Knochen, seltener Geweih und vereinzelt Mammutelfenbein. Unter dem bestimmten Knochenmaterial überwiegen Pferdeknochen, wobei zwei anatomische Elemente bevorzugt wurden: Rippen und Kiefer. In der Zusammensetzung der Tierreste in den Fundstellen des Mährischen Karst nimmt das Pferd die erste Stelle ein, gefolgt vom Rentier. Die genannten Materialien wurden zur Herstellung verzierter Waffen (Lanzen, Harpunen) und von Gebrauchsgegenständen (sog. „Kommandostäbe“, Spachtel) verwendet. Der Kommandostab aus Rengeweih zeigt zwei Bären hinter-
einander, die mit einer geometrischen Gravierung ergänzt sind (Abb. 1). Ein weiteres Werkzeug desselben Typs aus der Pekárna-Höhle, das auf dem Schaft eine Reihe plastisch ausgearbeiteter Zähne trägt, die als Verzierung interpretiert werden, dürfte nach K. Absolon als Musikinstrument (als Bogen) gedient haben (Abb. 2). Es entsteht also das Problem der Unterscheidung der funktionellen Anpassung des Gegenstands und seiner nichtutilitären (keinem Zweck dienenden) Verzierung. Eine der drei Harpunen ist mit einer geometrischen Gravierung verziert. Dekorierte Speerschleudern kommen dagegen in Mähren überhaupt nicht vor. Reich verzierte Spachtel mit figurativer und geometrischer Gravierung wurden in der Pekárna-Höhle in vollständigem, unfertigem sowie fragmentarisch erhaltenem Zustand entdeckt (Abb. 3-4, Umzeichnungen siehe Beitrag Kurz, Abb. 7-8).
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M. Lázničková-Galetová, Die Magdalénien-Kunst in Mähren
Abb. 1, oben: Lochstab aus Rengeweih mit der Gravierung zweier Bären hintereinander im Profil, geometrische Motive (Länge 17,3 cm). Abb. 2, unten: Lochstab aus Rengeweih mit einer Reihe geglätteter Zähne (Länge 22 cm).
Die Existenz von verschiedenen Produktionsstadien zeugt von ihrer Herstellung in situ (an Ort und Stelle). Bei den Spachteln aus der Pekárna-Höhle wird diese Annahme durch ihre Form, die Herstellungsverfahren, Standardisierung der Gravierung sowie durch das Vorkommen zahlreicher Pferdekiefer in der Höhle unterstützt. Wir plädieren ebenfalls bei den Spachteln aus der Pekárna-Höhle für die Verfertigung an Ort und Stelle. Damit
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handelt es sich um eine lokale Tradition und nicht um Importe. Die Spachtel aus der Pekárna-Höhle wurden als Dolche oder Löffel interpretiert (Abb. 3 u. 4). Beide angenommenen Funktionen sind praktischer Natur; ihnen widerspricht aber die feine Gestaltung der Spachtel. Die darauf vorkommende Gravierung sowie die Kolorierung – falls die letztgenannte nicht mit dem Glätten zusammenhängt – veranlassen zur Annahme
Abb. 3, oben: Spachtel aus Pferdekiefer mit Pferdegravierung und abstrakten Motiven (Länge 28,5 cm). Abb. 4, unten: Spachtel aus Pferdekiefer mit der Gravierung des Kopfes einer Saigaantilope, eines Bisons und dreier Pferde mit gebeugtem Kopf und mit geometrischen Motiven. Restauriert mit Ergänzung des Vorderteils (Länge 35 cm).
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M. Lázničková-Galetová, Die Magdalénien-Kunst in Mähren
Abb. 5: Pferderippe mit Darstellung von drei kämpfenden Bisonbullen (Umzeichnung s. Beitrag Kurz, Abb. 5 unten) (Länge 30,9 cm).
einer nicht-utilitären Funktion dieser Gegenstände (LázničkováGonyševová 2002). Gravierte, nicht utilitäre Gegenstände sind meistens aus Knochen hergestellt, vereinzelt aus Geweih, Mammutelfenbein und Schiefergeröll (Valoch 1961). Bei zwei in der Pekárna-Höhle entdeckten Pferderippen (Absolon & Czižek 1927; Klíma 1974) mit einer figurativen linearen Tiergravierung ist die anatomische Form des Materials maximal genutzt (Abb. 5). Tiere – Pferd und Wisent – sind hier in einer Reihe hintereinander dargestellt (siehe Beitag Kurz Abb. 5). Die geometrische Gravierung grenzt die Form ab, betont die Darstellung und kann als ein Pflanzenmotiv interpretiert werden, das im Magdalénien selten vorkommt (Tydsley & Bach 1983) und zum Beispiel auf der Gravierung auf dem Mammutelfenbeinstäbchen (Abb. 6) oder auf dem plastisch gestalteten Stäbchen aus Mammutelfenbein (Abb. 7) zu sehen ist. Das in Mähren nur
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vereinzelt als Material für Kunstgegenstände verwendete Rengeweih zeigt die schematisierte Gravierung eines Rentierkopfes (Abb. 8). Schmuck aus Muscheln, durchbohrten Tierzähnen, Knochen, Stein und Lignit ergänzen den symbolischen Lebenskontext des magdalénienzeitlichen Menschen. Seltene perforierte Rondells aus Knochen mit geometrischem Dekor und aus Gagat stellen eine direkte Parallele zu Ringen aus Nordspanien, Südostfrankreich und Deutschland dar (Bellier et al. 1991), während Anhänger des Typs „ausgeschnittene Konturen“ nicht entdeckt wurden. Die Gravierung auf dem Ring aus der Křížova-Höhle ist geometrisch und besteht aus einfachen, strahlenartigen Rillen (Abb. 9). Figurative Gravierungen gibt es auf den Ringen in der mährischen Kollektion nicht. Anhänger aus Knochen kommen vereinzelt vor und sind unverziert (Knochenplättchen und ein Anhänger aus der Pekárna-Höhle) (Škrdla
& Lázničková 1999). In kleinen Mengen erscheinen längliche Anhänger aus Schiefer (Býčí skála) oder Perlen aus Gagat. Perforiert ist auch der Gegenstand aus der Rytířská-Höhle, der als eine schematische Frauendarstellung mit betonten Brüsten interpretiert wird (Valoch 1965). Diese perforierten Gegenstände, ebenso zahlreich wie Nadeln, belegen die Existenz und Nutzung vergänglicher Materialien tierischer oder pflanzlicher Herkunft, die zu deren Fertigung (Anhängen, Annähen) benutzt wurden. Die Ausdruckstechniken der mährischen Kunst umfassen Gravierung, Bas-Relief und Relief ein, die selbständig oder kombiniert verwendet worden sind. Als Unterlagenmaterial dienten meistens Knochen, Geweih, Schiefer und in Ausnahmefällen Mammutelfenbein. Die am meisten verwendete Technik bei figurativen, besonders zoomorphen, oder geometrischen Motiven war die Gravierung. Aus Figuralmotiven kommen auf den Kunstgegenständen aus Mähren am häufigsten Pferde, Wisente, Bären, Rentiere und Saiga-Antilopen vor. Zwei Tiere konnten nicht bestimmt werden. Große Herbivoren wie Pferd, Wisent und Rentier sind durch Knochenreste vertreten und
gleichzeitig auf Kunstgegenständen dargestellt. Hasen und Nagetiere, die oft gejagt wurden, kommen dagegen in der Kunst nicht vor. Karnivoren (Füchse) sind durch Knochenreste nur vereinzelt belegt. Auf Gravierungen kommt jedoch der Bär vor. Auf der Oberfläche eines Elfenbeingegenstandes der Pekárna sind Pflanzenmotive abgebildet, und auf einer Schieferplatte aus der Höhle Býčí skála ist eine Frauendarstellung graviert. Geometrische Gravierung erscheint entweder in Form selbständiger Symbole oder als Einrahmung figurativer Darstellungen. In unserer Kollektion weisen die Rillen einen unregelmäßig „V“-förmigen Querschnitt auf. Bei der Durchführung von Tierdarstellungen wurde immer mit dem Kopf begonnen. Anatomische Details, etwa die Augen, wurden erst nach der Gestaltung der äußeren Konturen ergänzt. Figurative Gravierungen gingen den geometrischen voran. Gravierungen sind meist auf beiden Seiten – das heißt der Vorder- und Rückseite – der Objekte angebracht. Die Form des Gegenstandes, sei sie zufällig anatomisch bedingt oder morphologisch angepasst, ist häufig in das Konzept der gravierten Darstellungen einbezogen worden. So
bildet der Rand des Gegenstandes oft den Rücken des darauf gravierten Tieres. Statuetten kamen nur ausnahmsweise vor, ähnlich wie kombinierte Techniken. Bildhauertechnik wurde ausschließlich bei einer anthropomorphen Darstellung aus der Pekárna-Höhle verwendet. Der Rumpf und die Beine der Statuette sind nur angedeutet, die Brüste deutlich gestaltet und das Gesäß hypertroph und detailliert ausgeführt (Abb. 10). Die richtige Position wird kontrovers diskutiert, wie bei den Interpretationen von K. Valoch (2001; 2004) und M. Oliva (2005, 98, ergänzt) nachzulesen ist. Diese schematische Darstellung der Frau erscheint auch auf Schiefergravierungen (Klíma, 1974; Svoboda, 2000). Sie wird gleichermaßen
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durch die Form einiger oberflächig gravierter Schieferkiesel evoziert (Valoch, 1987). In der PekárnaHöhle, ähnlich wie in Fundstätten des Rheinlandes (z.B. Gönnersdorf) sowie im Donauraum, beobachtet man die Koexistenz plastischer und oberflächig gravierter Frauendarstellungen (Bosinski, 1991; Delporte, 1993). Aus Mammutelfenbein ist auch in Gönnersdorf eine schematische kopf- und fußlose Frauenplastik gefertigt, der sog. Typus „Lalinde-Gönnersdorf“ (Delluc & Delluc 1995). Mit Hilfe ihrer geographischen Verbreitung im magdalénien-zeitlichen Europa ist das kulturelle Territorium abzugrenzen (Sentis 2005). Die mährischen Frauendarstellungen – auch jene in Form der Anhänger – reihen sich zu schematischen rheinischen und donauländischen Statuetten (kopf- und fußlos, oft in Form von Anhängern). Die auf Kieseln gravierten Frauendarstellungen aus Mähren weisen einen Zusammenhang mit ähnlichen, im Périgord entdeckten Exemplaren auf, mit welchen sie das gleiche Material (Kiesel) und der gleiche schematische und nüchterne Stil verbindet. Die Kunstgegenstände aus Mähren stellen eine Kollektion standardisierter Artefakte dar, die nicht-utilitäre
Gravierungen, verzierte Werkzeuge, Waffen und Zierden, rondellartige Gegenstände oder stilisierte Frauendarstellungen einschließt. Damit können sie einen wichtigen Beitrag zur Definition und Abgrenzung kultureller Territorien im Rahmen des Magdalénien-Technokomplexes leisten.
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Abb. 10: Frauenstatuette aus Elfenbein (Länge 4,5 cm).
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82
Komplexe Darstellungen auf Kleinkunstwerken des Magdalénien
Ausgewählte Funde aus Laugerie-Haute (Dordogne, Frankreich) und der PekárnaHöhle bei Ochoz (Mährischer Karst, Tschechien). Karin Kurz (Nürnberg) Kleinkunst ist der Oberbegriff für sämtliche verzierten, meist gravieten und geschnitzten Objekte, die vorwiegend aus Knochen, Rengeweih, Mammutelfenbein oder Stein bestehen. Sie umfassen sowohl Schmuck und zeremoniale Gegenstände, als auch Gebrauchsgegenstände wie Werkzeuge und Waffen. Unter dem Begriff „komplex“ werden hier Darstellungen verstanden, die unterschiedliche Elemente auf einem Fundstück vereinen, z.B. Tieren, die in unterschiedlichen Lebensräumen vorkommen und auf den ersten Blick keine Verbindung miteinander zu haben scheinen. Diese sind häufig in Kombination mit Pflanzen und/oder Zeichen und Symbolen – gelegentlich mit menschenähnlichen Figuren – abgebildet. Im weiteren Sinne gehören dazu auch Darstellungen der Pekárna-Höhle (Tschechien), Spachtel aus Pferdekiefer mit Gravierung dreier Pferde (Detail).
gleichen Tierart sowie Einzeldarstellungen von Tieren, wenn sie von Speeren oder Pfeilen durchbohrt sind. Eine erste systematische Analyse von Werken der paläolithischen Kleinkunst wurde schon vor geraumer Zeit vorgelegt (Marshack 1972). Dabei wurden zwei Hauptgruppen von komplexen Darstellungen unterschieden: solche, die ausschließlich aus Zeichen bestehen und jene, bei denen Zeichen mit Abbildungen von Tieren verbunden sind. Bei diesen Zeichen handelt es sich um mehr oder weniger parallele oder gewinkelte Liniengruppen in variierender Anzahl und Länge. Sie wurden als Notationen gedeutet. Deren Vergleich mit den Mondphasen führte zu dem Ergebnis, dass es sich um Aufzeichnungen des Mondverlaufs, also eine Art frühes Kalendersystem
handelt, das aus der Beobachtung von Himmelserscheinungen resultiert. Daraus lässt sich ableiten, dass eine zeitliche Komponente in der prähistorischen Kunst generell eine wesentliche Rolle spielt. Weiterhin konnten die Darstellungen in saisonale Abbildungen ohne Angabe einer Zeitspanne und solche, bei denen durch Symbole und Notationen ein Zeitfaktor angegeben wird, unterteilt werden. Die Kombination von Tieren in unterschiedlichen Wachstumsstadien mit charakteristischen Pflanzen lässt auf eine bestimmte Jahreszeit schließen. Die Notationen werden in diesem Zusammenhang als Angaben bezüglich Dauer und Zeitraum für die Jagd oder das Vorkommen der Tiere in einer bestimmten Lebensform verstanden. Ausgehend von einem solchen zeitlichen Kontext konnten bestimmte Kombinationen
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K. Kurz, Komplexe Darstellungen auf Kleinkunstwerken des Magdalénien
Abb. 1: Lochstab aus Rengeweih. Länge: 21,3 cm.
von Tieren, Pflanzen und Symbolen herausgearbeitet werden, die mit Themen wie Tod/Opfer und Sexualität in Verbindung stehen. Der Großteil der systematisch untersuchten Objekte stammt aus dem Oberen Magdelénien (Stufen IV – VI). In diesen Zeitraum gehören auch die Fundstücke, die hier anlässlich der Ausstellung vorgestellt und aus der Sicht der angeführten Überlegungen betrachtet werden sollen.
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Laugerie-Haute (Les-Eyzies-de-Tayac-Sireuil, Dordogne, Sw-Frankreich) Der Abri von Laugerie-Haute liegt in Sichtweite von Les Eyzies unter einem gewaltigen Felsmassiv im Tal der Vézère (Abb. 8). Er ist eine der bedeutendsten Fundstellen in der Dordogne, und umgeben von vielen weiteren für die Kulturen des Paläolithikums Namengebenden Fundplätzen. Die Kleinkunstwerke aus LaugerieHaute wurden 1914 von Leo Gerlach für die Erlanger Sammlung erworben. Sie stammen aus der Grabung von Otto Hauser und befanden sich an einer Stelle, die Hauser als Opferstätte deutete (vgl. Beitrag Züchner zur Sammlungsgeschichte). Die Anordnung verzierter Steinblöcke um eine zentrale Feuerstelle, der Reichtum an herausragenden Funden und das Fehlen jeglicher Produktionsabfälle aus der Feuersteinbearbeitung hatten ihn zu dieser Annahme veranlasst. Beim ersten der drei Objekte (Abb. 1) handelt es sich um einen Lochstab aus Rengeweih. Auf der Vorderseite befinden sich zwei Pferde von unterschiedlicher Größe und künstlerischer Qualität. Auf der oberen Schmalseite ist neben einer Reihe von parallelen Linien ein sche-
matisierter Pferdekopf eingraviert. Solcherart gestaltete Pferdeköpfe in Verbindung mit Notationen könnten ebenso als Symbol für eine bestimmte Zeitspanne stehen. Der Körper des großen Pferdes ist teilweise über die Oberseite des Stabes graviert. Das Pferd galoppiert nach rechts. Das kleine Pferd scheint zu stehen und wendet sich nach links. Beim galoppierenden Pferd ist die vordere Kopflinie nachgezeichnet, d.h. durch eine zweite Linie gedoppelt. Beim zweiten Tier fehlt die Kopflinie und es wird von einem Speer oder Pfeil durchbohrt. „Doppellungen“ einzelner Körperpartien, besonders Kopf- oder Bauchlinie, sowie Darstellungen von mit Waffen durchbohrten Tierkörpern oder Blut spuckenden Tieren sind keine Seltenheit. Oft werden auch ganze Köpfe oder stilisierte Tierkörper mehrfach wiedergegeben und durch weitere Pfeile jeweils wieder „neu“ durchbohrt. Mikroskopische Untersuchungen an vielen Fundstücken haben ergeben, dass die „Wiederholungen“ mit unterschiedlichen Werkzeugen und zu unterschiedlichen Zeiten angebracht worden sind. Diese Motive werden als rituelle bzw. symbolische Tötungen oder Opferungen interpretiert, die in saisonalen Zyklen wiederholt werden,
Abb. 2: Gespaltenes Knochenstück. Länge: 7,9 cm.
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K. Kurz, Komplexe Darstellungen auf Kleinkunstwerken des Magdalénien
Abb. 3: Halbrunder Stab aus Rengeweih. Länge:10,8 cm.
um beispielsweise die neue Jahreszeit einzuleiten. Sie verkörpern damit eine gewisse Kontinuität. Das zweite Stück (Abb. 2) ist ein gespaltener Knochen, evtl. das Bruchstück eines Anhängers. Er weist eine Kerbung am Rand und fünf verschiedene, pflanzenartige Motive auf. Diese erinnern an Darstellungen auf Stücken aus den Fundstellen Montgaudier (Charente) und Raymonden (Dordogne). Bei beiden Beispielen sind Pflanzen, Fische und Tiere aus verschiedenen Lebensräumen miteinander vereint. Diese Kombinationen stellen nach neueren Erkenntnissen bestimmte
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Mythen dar. Geht man davon aus, dass es sich bei den Zeichen auf dem Anhänger von Laugerie-Haute um Pflanzen handelt, dann kann man das Stück als eine jahreszeitliche Abbildung ansehen, bei der durch die Zählkerben am Rand eine bestimmte Zeitdauer angegeben wird. Der halbrunde Stab aus Rengeweih (Abb. 3) wurde ursprünglich in zwei Stücken gefunden und mit leichten Ergänzungen wieder zusammengefügt. Auf der rechten Seite befindet sich ein Canide, wohl ein Wolf, mit herausgestreckter Zunge. Nach der Rückenlinie am oberen Rand des Stabes zu urteilen, scheint er zurückzublicken. Das auf dem linken Bruchstück dargestellte Motiv mutet wie die Kombination verschiedener Elemente an: dem Schwanz eines behaarten Tieres mit runder Schwanzquaste, die an einen Schlangenkopf mit gespaltener Zunge oder in ein Phallusende mit austretendem Ejakulat erinnert. Zwei kurze, flügelartige Linien stehen davon seitlich ab. Links oben ist ein quadratisches Symbol angebracht. Zwischen „Phallus“ und Wolf befinden sich pflanzen- und wellenartige Motive, die wegen der Bruchstelle allerdings etwas unsicher sind. Zu dieser Darstellung gibt es eine Parallele aus der Fundstelle
La Madelaine (Dordogne), bei der ein Bär an einem Phallus zu lecken scheint. Phallus, Schlange, Fisch und Wasser werden häufig miteinander kombiniert. Darstellungen dieser Art sind nicht in heutigem Sinne „sexuell“, sondern als Teil eines Mythos zu verstehen. Die Motive und Symbole sowie die darin enthaltenen Erzählungen waren weit verbreitet. Davon zeugen die nachfolgend vorgestellten Gegenstände aus der Pékarna-Höhle ganz im Osten des Verbreitungsgebiets des Magdalénien. Die Pekárna-Höhle (Bez. Brno, Tschechische Republik) Die Pekárna-Höhle liegt im südlichen Teil des Mährischen Karstes, im Tal des Hadecker Baches, in der Nähe der Stadt Ochoz. Sie ist die wichtigste Fundstelle des Magdalénien in dieser Region. Die meisten der vorliegenden Stücke wurden bereits bei den ersten Grabungen in den zwanziger Jahren zutage gefördert. Auf dem Lochstab (Foto siehe Beitrag Lázničková-Galetová Abb. 1) ist auf der Vorderseite ein Bär eingraviert, dem links ein zweites, kleineres Tier folgt. Die Rückseite und die beiden Schmalseiten tragen ovale, reliefartig ausgestaltete
Motive, die als Vulven oder auch als Fische gedeutet werden können. Motive dieser Art sind auch aus dem westlichen Europa in großer Zahl bekannt. Geht man davon aus, dass es sich hier um Fische handelt, wird eine zeitliche Komponente, nämlich Frühjahr oder Herbst, erkennbar. Wegen der saisonalen Fischwanderungen sind die Flüsse zu diesen Zeiten besonders fischreich, so dass die Bären sie leicht erbeuten können. Für den Menschen bedeutet diese Kenntnis, dass er beide Tierarten zu bestimmten
Abb. 4: Pferderippe mit Darstellung von 3 Bisonbullen (Gesamtabbildung siehe Beitrag Lázničková-Galetová Abb. 5). Länge: 30,5 cm.
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K. Kurz, Komplexe Darstellungen auf Kleinkunstwerken des Magdalénien
Abb. 5: Pferderippe. Länge: 33 cm. Foto (von einer Kopie) sowie Umzeichnung Vorderseite (unten).
Jahreszeiten an bestimmten Plätzen gehäuft antreffen kann. Auf einer Pferderippe sind drei Bisonbullen eingraviert (Abb. 4). Die rechts dargestellten Tiere kämpfen miteinander, das dritte Tier nähert sich von links. Es ist von verschiedenartigen, von oben kommenden Pfeilen durchbohrt und scheint aus dem Maul zu bluten. Der linke, kämpfende Bulle ist ebenfalls von Pfeilen durchbohrt und seine vordere Kopflinie wurde mehrfach nachgezeichnet, was wieder auf das Element der rituellen
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Tötung hinweist. Die Kämpfe der Bisonbullen finden während der Brunftzeit – von Juli bis September – statt, wodurch der jahreszeitliche Bezug gegeben ist. Eine zweite, gravierte Pferderippe zeigt vier weidende Pferde, die oben und unten partiell von Winkeln aus parallelen Linien umrahmt sind (Abb. 5). Am linken Ende sind längere, leicht gebogene, parallele Linien angebracht. Das erste Pferd von links weist zwei einzelne Winkel am Hinterleib auf. Beispiele von Tieren, die mit Zeichen, meist
Winkel oder Kreuzen versehen oder umgeben sind, liegen auch aus dem französischen Magdalénien vor. Eventuell waren solcherart markierte Tiere als Opfertiere zur rituellen Tötung vorgesehen. Im Zusammenhang mit Tötung/Opferung und „Erneuerung“ wird auch die Bedeutung der Doppellung der Kopflinie des ersten Tieres sinnvoll. Von anderer Seite wird die Doppellung hier als Darstellung des Zurückwerfens des Kopfes, wie es für diese Tiere charakteristisch ist, gesehen (Klíma 1964/65). Möglicherweise sind die beiden rechten Tiere von Speeren durchbohrt. Dies ist nicht mehr genau zu erkennen. Die Rückseite ist überwiegend mit Linienschraffur versehen. Rechts befindet sich ein skizzenhaft dargestelltes Pferd mit einem Kreuzzeichen im Körper. Die gebogenen Linien rechts daneben könnten als Doppellungen der Hinterpartie betrachtet werden, was die erstgenannte These unterstreicht. Die beiden „Dolche“ oder „Messer“ (Abb. 6 und 7) sind aus Pferdeunterkiefern geschnitzt und in ihrer Form einzigartig. Aufgrund ihrer Feinheit ist eine praktische Verwendung nicht wahrscheinlich; sie dürften ausschließlich zeremonialen Zwecken gedient haben.
Das erste Stück (Abb. 6) weist auf der Vorderseite die Gravur eines Pferdes mit diversen Zeichen und Symbolen auf. Auf dem Körper des Tieres sind drei parallele Bögen angebracht. Die Rückseite beinhaltet weitere Zeichen und Symbole sowie eine ovale Figur mit einem X-förmigen Zeichen in der Mitte. Dieses Motiv zeigt
Abb. 6: Zierdolch aus Pferdeunterkiefer. Länge: 29 cm. (Gesamtfoto siehe Beitrag Lázničková-Galetová Abb. 3).
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K. Kurz, Komplexe Darstellungen auf Kleinkunstwerken des Magdalénien
Abb. 7: Zierdolch aus Pferdeunterkiefer. Länge: 35 cm. (Foto siehe Beitrag Lázničková-Galetová Abb. 4)
sowohl Ähnlichkeiten mit Motiven auf ovalen Kieselsteinen aus der Pekárna-Höhle, die als phallische Symbole gedeutet werden, als auch Affinitäten zu schematisierten Darstellungen von Fischen aufweist. Der zweite Zierdolch (Abb. 7) war in zwei Teile zerbrochen; die Spitze konnte ergänzt werden. Auf der Vorderseite sind die Köpfe eines Steinbocks, von anderer Seite als Antilope gedeutet, und eines Bisons sowie diverse Symbole und Zeichen eingraviert. Links, im Körperbereich des Bisons, befindet sich eine Schlangenlinie; das Horn ist von Symbolen umgeben. Der Steinbock weist eine Speerspitze in der Kehle auf. In Richtung Griffende sind parallele, gebogene Linien angebracht. Die Rückseite zeigt drei ineinander
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gravierte Pferdeköpfe, das Maul des dritten Pferdes wurde entsprechend rekonstruiert. Es handelt sich eventuell um eine Stute, ein Fohlen und einen Hengst. Stute und Hengst sind gegengleich gespiegelt, wobei die hintere Halslinie des einen Pferdes deckungsgleich mit der vorderen Halslinie des anderen ist. Die Halslinien werden von ähnlichen Punkt- und Strichreihen begleitet, wie sie auf der Vorderseite zu sehen sind. Skizzenhaft ist der Rentierkopf auf einem Stück einer Rentierschaufel eingraviert (Beitrag Lázničková-Galetová Abb. 9). Er scheint Teil einer Szene zu sein, wie die Linien am unteren, abgebrochenen Ende zeigen. Die Striche über der Schnauze wurden von den Ausgräbern auf ein versehentliches Abrutschen des Graveurs zurückgeführt. Nach heutiger Sicht dürfte es sich um Pfeile handeln, die in einem Fall von oben nach unten verlaufen. Pfeile oder Speere im Tier weisen meist von unten nach oben und sind nur gelegentlich in umgekehrter Weise angebracht, wie beispielsweise auch beim dritten Bison auf der Pferderippe (Abb. 4). Die hier vorgestellten Funde stellen nur eine sehr kleine Auswahl des reichhaltigen Materials aus
zahlreichen Fundstellen Europas dar. Aufgrund der frappierenden Ähnlichkeiten über die große Entfernung von Westfrankreich nach Mähren kann geschlussfolgert werden, dass die Bedeutung der Motive, Symbole und Zeichen im Späten Magdalénien allgemein bekannt war. Die Darstellungen des paläolithischen Menschen beinhalten Mythen und Geschichten auf der Basis der genauen Beobachtung und Kenntnis der Umwelt und der natürlichen Entwicklung von Mensch und Tier. Eine solche Deutung geht weit über die frühere Interpretation eines Jagdzaubers zur Sicherung des Tierbestandes und der Nahrungsmenge hinaus.
Literatur: Geer, H, (1971), Unveröffentlichte Fundkomplexe aus den Grabungen Otto Hausers in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg. Ein Beitrag zur Erforschung klassischer
Marshack, A. (1972), The roots of civiliza-
Stationen des Paläolithikums in Südwest-
tion. The cognitive beginnings of man’s first
frankreich. Dissertation Erlangen.
art, symbol and notation. New York.
Klíma, B. (1964/65), Eine neue paläolithi-
Valoch, K. (1998), L’art magdalénien en
sche Ritzzeichnung aus der Pekárna-Höhle
Moravie (République Tchèque). – Rivista di
in Mähren. – Quartär 15/16, 167-173.
Science Preistoriche 49, 65-81.
Abb. 8: Laugerie-Haute (Dordogne, Frankreich)
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Die Technik der Elfenbeinbearbeitung im Wandel der Jahrtausende Rainer Bücking (Erlangen)
Fo-Hund (China) Elfenbeinarbeit aus dem 19. Jh.
Elfenbein ist ein „Hightech-Werkstoff “ aus der Natur. Es ist seit Urzeiten und in fast allen Kulturkreisen für die Herstellung von Kult- und Gebrauchsgegenständen verwendet worden. Heute besitzt es nur noch im asiatischen Raum einen hohen traditionellen Stellenwert, und wird dort nach wie vor in großen Mengen verarbeitet. Neben dem Elfenbein von Narwal, Pottwal, Nilpferd und Warzenschwein sind vor allem die Stoßzähne des Mammuts sowie des afrikanischen und indischen Elefanten die von der Dimension und Quantität größten Elfenbeinlieferanten. Beim Mammut waren Längen von 4 – 4,5 m und Durchmesser von 35 cm pro Stoßzahn keine Seltenheit, bei einem Gewicht von bis zu 125 Kilogramm. Dieses sibirische Elfenbein, noch heute in Asien „schwarzes Elfenbein“ genannte Material, wurde im asiatischen Raum schon in frühgeschichtlichen Zeiten ge-
handelt und früher wie heute in großen Mengen zu Schmuck und Gebrauchsgegenständen verarbeitet. Allerdings hat dieses Elfenbein durch seine Lagerung im Erdreich im Laufe der Jahrtausende einige seiner typischen Eigenschaften eingebüßt. Es ist sehr instabil, und die für Elfenbein typische Elastizität ist verloren gegangen. Für technische Zwecke ist es also praktisch nicht mehr zu gebrauchen. Durch die Einlagerung im Erdreich, damit sowohl dem Permafrost als auch kurzen sommerlichen Tauperioden ausgesetzt, hat sich hier über die Jahrtausende die Kollagenstruktur aufgelöst, was zu vielfachen Rissbildungen im Material führt. Eingelagerte Mineralien sind zudem für zum Teil erhebliche Verfärbungen verantwortlich. Die für das Elfenbein typische Transparenz ist dabei fast gänzlich verloren gegangen und es hat dadurch im Vergleich zu frischem Elefantenbein einen ausgesprochen toten Charak-
ter. Obwohl das Mammutelfenbein noch in großen Mengen vor Ort liegt, sind nur 30% der Funde handwerklich verwertbar. Der Rest ist so rissig, dass es praktisch wertlos ist. Die brauchbaren Funde werden heute meist mit tief ins Material eindringenden Kunstharzen stabilisiert, um ein späteres Reißen zu verhindern. Leicht feststellbar ist das beim späteren Bearbeiten mit Fräsen oder beim Drechseln. Zum einen am Geruch, zum anderen an der Kurzspanigkeit der Frässpäne. Beim afrikanischen Elefanten, dessen Verbreitungsgebiet sich ursprünglich bis nach Nordafrika, und dem asiatischen Elefanten, dessen Verbreitungsgebiet sich bis nach Mesopotamien und Persien erstreckte, sind allerdings nur Stoßzahnlängen und -Gewichte bis höchstens zwei Drittel von denen des Mammuts belegt (Abb. 1). Die Qualität des heute gehandelten Elfenbeins ist sehr unterschiedlich
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R. Bücking, Die Technik der Elfenbeinbearbeitung im Wandel der Jahrtausende
Abb. 1: Stoßzahn eines großen afrikanischen Elefanten (Länge 2,60m), Foto von 1884 aus dem Geschäftsbuch H.-A. Meyer (Hamburg), damals weltgrößter Hersteller von Billardkugeln aus Elfenbein.
und hängt ausschließlich von der Herkunft ab. Man unterscheidet zwischen weichem und hartem Bein. Als Grundregel für die Güte des Elfenbeins kann man sagen, dass sich die Qualität mit der Entfernung vom Äquator verschlechtert. Elfenbein vom Kap oder aus dem Norden des Verbreitungsgebietes ist sehr grob und wenig transparent. Für hochwertige Kunstgegenstände ist es in historischer Zeit praktisch nicht verwendet worden. Nur im Elfenbein des Äquatorialgürtels spiegelt sich der ganze Reiz dieses Materials. Aber selbst dieses Elfenbein hat etliche Besonderheiten, welche zu Zeiten, als alle Varietäten noch uneingeschränkt gehandelt wurden, für die Qualität der Arbeiten maßgeblich war. Fast alle Kunstwerke von Rang sind aus diesem Elfenbein gefertigt. Es ist sehr fein gemasert, hat ein leicht schimmerndes, durchscheinendes Aussehen und eine bei Berührung warme, angenehme Haptik. Äußerst elastisch und doch sehr hart, hat es eine unnachahmliche Wachstumsarchitektur (Abb. 2). Kein Kunstprodukt kann sich bislang in der Qualität und Schönheit mit diesen Eigenschaften messen. An der Verarbeitungstechnik des Materials hat sich über viele Jahrhun-
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derte nichts Wesentliches geändert. Erst in den letzten zwei Jahrhunderten des Maschinenzeitalters sind manche Verarbeitungstechniken einfach verloren gegangen. Die Größe der Kunst- und Gebrauchsgegenstände war durchaus nicht immer auf die Dimension eines Stoßzahns beschränkt. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. waren in Griechenland bis zu 12 Meter hohe Gold-Elfenbein Götterstandbilder in großer Zahl entstanden (Pausanias). Die großen Mengen an dem dafür benötigtem Elfenbein kamen aus Libyen, dem Sudan und Äthiopien nach Griechenland. Bei einigen antiken Schriftstellern deuten vorgetragene Hinweise mit großer Sicherheit darauf hin, dass es Techniken gab, um das Elfenbein zu erweichen, zu biegen oder zu dehnen. Diese Techniken wurden dann bei den so genannten chryselephantinen Großplastiken eingesetzt, um große Partien flächig zu verkleiden. Heute ist das Wissen darüber verloren. Abgesehen von Teilen aus Goldblech, welche bei Grabungen in Delphi gefunden wurden, hat sich aber von den einstigen Großplastiken nichts Nennenswertes mehr erhalten. Die chryselephantine Technik erlebte bei Kleinplastiken
noch einmal eine Renaissance im Art Deco des letzten Jahrhunderts. F. Preiss (Deutschland) und D. Chiparus (Frankreich) waren die bedeutendsten Vertreter dieser Kunstform, Elfenbein mit anderen Materialien zu verbinden. Insgesamt sind viele Techniken und Verarbeitungsmethoden jedoch für immer verloren gegangen, da sie nie niedergeschrieben wurden und nur einen kleinen Kreis von Personen zugänglich waren. Dieser Verlust von Wissen ist insofern auch erklärlich, als es im Laufe der Jahrhunderte oft lange Zeitabschnitte gab, in denen Elfenbein im europäischen Raum nicht dem Zeitgeist
Abb. 2: Sägeschnitt durch Stoßzähne zweier afrikanischer Elefanten. Gut zu sehen sind die Schregerlinien (innere Stoßzahnstruktur).
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R. Bücking, Die Technik der Elfenbeinbearbeitung im Wandel der Jahrtausende dentlich langwierige, kraftraubende Prozedur. Heute wird das mit Maschinen erledigt wird, wobei der Verschnitt minimal ist (Abb. 3b).
Abb. 3a: Sägegatter, Firma J. Gg. Bücking (Erlangen).
Abb. 3b: Blick in die Werkstatt der Fa. Bücking (Erlangen).
entsprach und somit auch nicht verarbeitet wurde. Die verfügbare Fachliteratur des 19. Jahrhunderts berichtet nur mehr über allgemein verwendete Techniken mit chemischen Mitteln, welche in der Lage sind kleine und dünne Elfenbeinstücke zu verformen oder zu verfärben. Beispielsweise, um noch seltenere Materialien wie Schildpatt perfekt zu imitieren. Allgemeine Verarbeitungstechniken haben sich aber nach wie vor bis heute erhalten. Da sich das Elefantenbein – anders als beim angewitterten und rissigen Mammutbein – nicht ohne große Materialverluste spalten lässt, muss es gesägt werden (Abb. 3a). Das Zerteilen war früher eine außeror-
Da Elfenbein hygroskopisch (Wasser aufnehmend) ist, hat man sich diesen Umstand zu Nutze gemacht, um das Material für die Bearbeitung mit Sägen weicher zu machen und auch, um gleichzeitig das Reissen zu verhindern. Das gewässerte Elfenbein läßt sich dann leichter mit Kupfer- oder Eisensägen der Länge nach in Platten verschiedener Stärke aufschneiden. Solche Arbeiten, mit selbst für die heutige Zeit enormen Abmessungen, kann man zum Beispiel bei noch erhaltenen Gebrauchsmöbeln und Spieltischen des alten Ägyptens oder bei erhaltenen Gegenständen aus dem römischen Einflussgebiet sehen. Gerade im Möbelbau der Antike waren Elfenbeinfüße oder großflächige Einlegearbeiten oder Verkleidungen aus Elfenbein üblich und weit verbreitet. Auch kultische Kleinplastiken, Gebrauchsgegenstände wie Kämme, Haarnadeln und gedrechselte Dosen wurden in enormen Mengen aus Elfenbein hergestellt. Die alte Hafenstadt Aquilea war einer der Hauptorte im Römischen Reich, in der fabrik-
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mäßig große Mengen an Elfenbein zu Gebrauchs- und Luxuswaren verarbeitet wurden (Abb. 4). Die Weiterverarbeitung war dann das Schleifen und die Politur der Oberflächen. Zum Teil wurden die fertigen Platten auch mit Basreliefs verziert. Auch hier hat sich an der Verarbeitungsmethode im Prinzip nichts geändert. Nach wie vor wird das Elfenbein mit Bimsmehl und Kreide verschiedener Körnungen bis zum Mattglanz geschliffen. Für die Schlusspolitur wird Kreide mit Spiritus verwendet. Elfenbein hat eine so hohe Dichte, dass mit dieser ältesten Art der Politur das beste Ergebnis erzielt wird. Erst mit ihr entsteht die faszinierende Tiefe, die eine Elfenbeinoberfläche so unnachahmlich macht. Die in den letzten zwei Jahrhunderten verwendeten aufgesetzten Polituren mit Carnauba-Wachs, die zum Teil bei der industriellen Elfenbeinverarbeitung eingesetzt werden, können das bei weitem nicht erreichen. Einige wenige traditionelle Arbeitsschritte zu Beginn des Verarbeitungssprozesses sind im Laufe der Zeit durch Maschinen ersetzt worden. Es gibt heute noch einige Schnitzer in Europa, die sich der
traditionellen Schnitztechnik verschrieben haben und das Arbeiten mit Bohrschläuchen und Fräsen in der Endphase der Herstellung ablehnen. Für diese Handwerker hat sich das Werkzeug seit Jahrhunderten nicht geändert. Es besteht in der Regel lediglich aus etwa 20 bis 30 Schabern aus Werkzeugstahl mit unterschiedlichen Profilen. Diese Profile stellt sich jeder Schnitzer nach seinen Bedürfnissen selbst her. Von diesen Schabern wird immer derjenige gewählt, der das passende Profil entsprechend der Oberfläche hat. In der linken Hand wird das zu bearbeitende Werkstück gehalten. Über den Daumen, der als Hebel wirkt, wird dann mit dem Schaber, der wie ein Bleistift gehalten wird, die Oberfläche geschabt. Auf diese Art lassen sich die allerfeinsten Oberflächen erzielen. Ein Nachschleifen ist praktisch nicht mehr nötig. Gerade bei Kleinplastiken und Reliefs sind exakte, vordefinierte Flächen wichtig. Elfenbein mit seiner hohen Dichte ist ein ideales Material, um selbst mikroskopisch kleine Details zu verwirklichen. Es lässt sich bis 1/10 mm dünn verarbeiten, ohne zu brechen. Seine Elastizität ist unvorstellbar gut. Die perfekte Oberfläche ist das Ziel eines jeden Schnitzers. Der Einsatz von Fräsen
Abb. 4: Flachrelief in Elfenbein nach hellenistischem Cameo, Fa. J. Gg. Bücking (Erlangen).
Abb. 5: Elfenbein-Drechselbank (England, um 1750).
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R. Bücking, Die Technik der Elfenbeinbearbeitung im Wandel der Jahrtausende
Abb. 6: Römische Bogendrehbank aus dem 2.-3. Jahrhundert.
Abb. 7: Elfenbeinkamm mit Firmenzeichen um 1855, Fa. J. Gg. Bücking (Erlangen).
und Bohrschläuchen erleichtert zwar die Arbeit wesentlich, doch nicht unbedingt zum Vorteil bezüglich der Qualität. Ein Großteil der Arbeiten aus den letzten 50 Jahren verkörpert leider im Ergebnis nichts von dem, was an Potential im Material steckt. Im Prinzip hat sich also über die Jahrtausende, was die Oberflächenverarbeitung betrifft – von der Qualität der Werkzeuge einmal abgesehen – keine wesentliche Verbesserung erzielen lassen. Stichel und Schaber haben heute wie vor tausend Jahren noch die selbe Funktion, ob sie aus Feuerstein, Kupfer oder Werkzeugstahl bestehen. Ein anderer Zweig der Elfenbeinverarbeitung ist die Drechslerei mit diesem Material. Im 17. Jahrhundert entdeckte der Adel in Europa das Material wieder neu, nachdem es Jahrhunderte lang nur für christliche Devotionalien verwendet worden war. Man schaffte sich Wippdrehbänke (Abb. 5) oder Passigdrehbänke an, auf denen sich hochkomplizierte Elfenbeindrechslereien wie zum Beispiel Contrefaitkugeln herstellen liessen. Einige der berühmtesten Arbeiten aus dieser Zeit sind im Grünen Gewölbe in Dresden zu besichtigen und stehen für Arbeiten, wie sie in ganz Europa hergestellt wurden.
Die Wippdrehbank ist die fußbetriebene Weiterentwicklung der Schnurzugdrehbank (Abb. 6), welche im Altertum und bei den Römern in Verwendung war und mit Hilfe derer Dosen aus Elfenbein und Knochen gedreht wurden. Von den Passigdrehbänken gibt es weltweit nur noch wenige Exemplare und entsprechend wenige Handwerker, die noch in der Lage sind sie zu bedienen. Aus dieser Modeerscheinung im 17. Jahrhundert entwickelte sich im Laufe der Jahre ein ansehnliches Handwerk in ganz Europa, das trotz aller Höhen und Tiefen bis heute Bestand hat. Der Höhepunkt der Elfenbeinverarbeitung in Europa ist längst überschritten. Rund 150 Jahre ist es her, daß mit dem Beginn der Kolonialzeit unglaubliche Mengen Elfenbeins aus den Kolonialgebieten nach Europa importiert wurden. Mangels verfügbarer Kunststoffe wurde praktisch jeder Gebrauchsgegenstand in seiner besseren Ausführung auch aus Elfenbein hergestellt (Abb. 7). Ein großer Teil der Produkte wurde bald auch mit Hilfe der Dampfkraft maschinell verarbeitet. Wo zum Beispiel ein Kammmacher für die Herstellung eines Staubkamms mit 60 Zähnen
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auf den Zoll rund einen Tag an Handarbeit benötigte, waren nun auf der Maschine nur noch 10 bis 20 Minuten nötig (Abb. 7). Rund 550.000 kg wurden jährlich alleine in Europa verarbeitet! Im Altertum dürfte der Verbrauch in manchen Jahrhunderten ebenso hoch gewesen sein. Nicht wegen der vielen Gegenstände, die aus Elfenbein hergestellt wurden, sondern wegen des extrem hohen Materialverschnittes beim Zerteilen der Zähne. Doch gab es auch in der Antike immer wieder lange Phasen, in denen kaum Nachfrage nach Elfenbein bestand und die Elefantenpopulationen sich erholen konnten. Mit der Entwicklung der ersten Kunststoffe um 1900 verschwand der Bedarf an Elfenbein für Gebrauchsgegenstände. Lediglich Schmuck und Klaviaturen wurden noch in nennenswerten Mengen hergestellt, bis der Handel mit Rohelfenbein im Jahr 1989 eingeschränkt wurde. Heute werden in ganz Europa im Jahr ca. 500 Kilogramm verarbeitet. Das ist ein Bruchteil von dem, was in Asien heute immer noch jährlich an Elfenbein und Mammut benötigt wird. Vorwiegend verwendet wird das
Elfenbein in Europa heute für die Restaurierung und für hochwertige Musikinstrumente. Durch das seit 1989 in Kraft getretene Washingtoner Artenschutzabkommen wird seitdem ausschließlich Altbestand verarbeitet. Man schätzt, dass die Bestände beim derzeitigen Bedarf noch ungefähr 30 Jahre ausreichen werden.
Abb.8: Athena-Statue im Parthenon (Rekonstruktion Metropolitan Museum, New York).
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Die altsteinzeitlichen Funde in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg Christian Züchner (Erlangen) Die Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung ist eine Einrichtung der Gesamtuniversität, die dem Institut für Ur- und Frühgeschichte zur Betreuung zugeordnet ist. Sie umfasst heute Funde nahezu aus der ganzen Welt von den Anfängen vor rund 1,5 Mio. Jahren bis in die Frühe Neuzeit, die durch Ankäufe, Schenkungen und Ausgrabungen des Instituts erworben worden sind. An dieser Stelle soll in der gebotenen Kürze die Geschichte der altsteinzeitlichen Funde und ihre Bedeutung für die Forschung dargestellt werden. Die Sammlung dient in erster Linie der Forschung und Lehre. Sie ist aber nach Voranmeldung kurzfristig für alle interessierten Besucher zugänglich. Führungen und museumspädagogische Veranstaltungen für alle Altersgruppen werden durch die Mitglieder der studentischen Initiative der „Vorzeitkiste“ Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung 2007. Blick in die Abteilung Altsteinzeit.
organisiert. Nähere Informationen zur Sammlung und den Veranstaltungen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte finden sich unter: www.uf.phil.uni-erlangen.de Die Frühzeit: Johann Friedrich Esper (1732-1781) Johann Friedrich Esper, Pfarrer in Uttenreuth, untersuchte 1771 erstmals die Zoolithenhöhle bei Burggaillenreuth. Er entdeckte in der Höhle Knochen von 13 verschiedenen Tierarten, darunter aus heutiger Sicht Höhlenbär, Höhlenlöwe, Höhlenhyäne, Wolf und Vielfraß. Er veröffentlichte seine Ergebnisse 1774 in einem prachtvoll bebilderten Werk und stellte darin eine bislang unbekannte Tierwelt vor. Die biblische Schöpfungsgeschichte war noch allgemein gültig. Deshalb ging Esper davon aus, es müsse sich um noch heute lebende Arten handeln. Die Bären aus der
Abb. 1: Blick in die Ausstellungsräume in der Anatomie um 1940 mit den Vitrinen aus den Anfängen der „AnthropologischPrähistorischen Sammlung“ nach 1914.
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Ch. Züchner, Die altsteinzeitlichen Funde in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung
Abb. 2: Stempel der Vor- und Frühgeschichtlichen (Privat-) Sammlung von Leo Gerlach.
Zoolithenhöhle wichen in Größe und Form von den Braunbären ab. Folglich deutete er sie als Eisbären. Er nahm an, die Tiere seien von der steigenden „Sintflut“ in den Bergen zusammengetrieben worden und ertrunken. Als die Flut wieder ablief, spülte sie ihre Gebeine in die Höhle. Dennoch blieb es ihm unbegreiflich, wie solche Mengen an Tierknochen in die Höhle gelangen konnten. Da er auch auf menschliche Gebeine stieß, stellte sich ihm die Frage, ob diese nicht zusammen mit den Tieren vor der Sintflut gelebt hätten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erwachte das Interesse an der heidnischen Vergangenheit Deutschlands. Zahlreiche Laien gruben in den Höhlen der Fränkischen Schweiz und öffneten die vorge-
schichtlichen Grabhügel, die noch überall in Wald und Flur zu sehen waren. Es wurde aus heutiger Sicht viel Schaden angerichtet, da diese Unternehmungen meist unsystematisch und ohne Dokumentation durchgeführt wurden. Dennoch blieben diese Arbeiten für lange Zeit die Hauptquelle für die Kenntnis der fränkischen Vorgeschichte. Der Erlanger Pfarrer Dr. Rudolf Herold (1879-1917) stand in der Tradition der Laienforschung, als er 1913 den Grabhügel mit dem bekannten „Altar“ bei Kosbach ausgrub, auch wenn er bereits eine relativ genaue Dokumentation seiner Beobachtungen anfertigte. Aber gerade diese Ausgrabung in Kosbach sollte den endgültigen Anstoß zur Gründung der Erlanger „Anthropologisch-prähistorischen Sammlung“ geben, die nach den gemeinsamen Bemühungen von Pfarrer Herold und Prof. Gerlach 1914 gegründet wurde. Die Gründung der Sammlung im Jahr 1914 Kurz nach 1900 begann der Erlanger Anatom Prof. Leo Gerlach (1851-1918), prähistorische Funde als Zeugen der Entwicklung des Menschen und seiner Kulturen zu sammeln. Im Januar 1914 erhielt
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er von der Firma „Louis Exsteens – Comptoir Ethnographique“ in Brüssel eine Kollektion von Steingeräten, die erkennen lässt, dass er Belege für die ältesten Werkzeuge der Menschen bestellt hatte. Neben altertümlichen Faustkeilen erhielt er ein Sortiment von „Eolithen“, die man damals für die ersten Werkzeuge des Menschen hielt, bei denen es sich aber nach unseren heutigen Kenntnissen um Naturprodukte handelt. Im Frühjahr 1914 trafen aus der französischen Dordogne Stein- und Knochengeräte ein, die Gerlach bei Otto Hauser in Les Eyzies bestellt hatte. Sie stammen aus berühmten Fundstellen, die paläolithischen Kulturen ihren Namen gegeben haben: aus Le Moustier („Moustérien“), La Micoque („Micoquien“) und vor allem aus Laugerie-Haute, einer der bedeutendsten Stationen Frankreichs. Es mag verwundern, dass diese Funde verkauft und außer Landes gegeben werden konnten. Das hängt mit dem französischen Eigentumsrecht jener Jahre zusammen, nach dem einem Grundbesitzer alles gehörte, was auf seinem Grund geborgen wurde, und womit er verfahren konnte, wie er wollte. Das galt auch für den
gebürtigen Schweizer Otto Hauser (1874-1932). Er ist eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Altsteinzeitforschung. Für die einen ist er der „Schliemann“ der Urgeschichtsforschung, für andere war er nichts als ein Raubgräber, der die Fundstellen der Dordogne ausgeplündert und französisches Kulturgut in alle Welt verkauft hat. Otto Hauser wurde 1874 in Wädenswil (Schweiz) geboren. Früh galt sein Interesse der Archäologie. Fasziniert von den Möglichkeiten dieser Region für die Erforschung der Menschheitsgeschichte zog er 1906 in die Dordogne. Er pachtete und erwarb zahlreiche Fundplätze. Er bemühte sich um wissenschaftliche Akribie, ließ die Lage seiner Funde von einem Geometer festhalten und fertigte eine umfangreiche Dokumentation an. Um die Ausgaben zu finanzieren, verkaufte Hauser seine Funde in alle Welt. Auf diese Weise gelangten 1914 auch die umfangreichen Bestände aus der Dordogne nach Erlangen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste Hauser aus Frankreich fliehen und die gesamte Dokumentation seiner Ausgrabungen zurücklassen. Sie gilt heute als verschollen. Anscheinend hatten
Abb. 3: Leo Gerlach (oben) und Rudelf Herold (unten) – Die Gründerväter der Vor- und Frühgeschichtlichen Sammlung der Universität.
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Ch. Züchner, Die altsteinzeitlichen Funde in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung und das Geographische Institut, das einige Funde beigesteuert hatte, die bei verschiedenen Forschungsreisen zusammengetragen worden waren.
Abb. 4: Karteikarte der Vor- und Frühgeschichtlichen (Privat-) Sammlung Gerlach. Knochenspitzen aus Laugerie-Intermédiaire (Dordogne, Frankreich), Grabung Otto Hauser 1914.
sich bereits um 1914 gute Beziehungen zu Gerlach entwickelt. Das dürfte auch der Grund sein, warum Hauser 1916 in Erlangen mit einer Dissertation über seine mittelpaläolithischen Funde von „La Micoque“ promoviert wurde. Gerlach war beim Aufbau der „Anthropologisch-Prähistorischen Sammlung“ zunächst an der Kulturgeschichte des Menschen interessiert. Später entwickelte sich daraus eine allgemeine prähistorische Sammlung, die nach den Gründungsstatuten der Forschung und der Lehre in gleicher Weise dienen sollte. Die Leitung teilten sich in den Anfangsjahren das Anatomische
Die Jahre zwischen 1919 und 1946 Nach Gerlachs Tod übernahmen 1919 die Professoren Albert Hasselwander (Anatomie) und Robert Gradmann (Geographie) die Leitung der Sammlung. In den zwanziger Jahren stagnierte der Ausbau der Sammlung. Herausragende Funde aus Ägypten wurden an die Erlanger Antikensammlung als Dauerleihgaben abgetreten, die Münzsammlung ging an die Universitätsbibliothek. Die Situation änderte sich erst, als Ende 1932 der Prähistoriker Dr. Rudolf Paulsen (1893-1975) als Kustos nach Erlangen berufen wurde. Systematisch betrieb er unter Ausnutzung der nationalsozialistischen Ideologie den Ausbau und die Loslösung der urgeschichtlichen von der anatomischen Sammlung, die Schaffung eines Seminars und schließlich eines Instituts für Urund Frühgeschichte, dessen erster Vorstand er 1941 wurde. Paulsen hatte einen eigenen, wenn auch bescheidenen Etat, der es ihm erlaubte, die Sammlungsbe-
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stände beträchtlich zu erweitern. Außer einer Reihe von kleineren Fundkomplexen aus allen vorgeschichtlichen Perioden erwarb Paulsen die Abgüsse von Schädeln der wichtigsten damals bekannten Urmenschen. im Jahr 1938 gelang es ihm, die Privatsammlung des Arztes Dr. Gustav Rossbach aus Lichtenfels zu erwerben. Sie umfasst sehr umfangreiche und wertvolle Bestände aller vorgeschichtlichen Perioden seiner Heimat. Die mittelpaläolithischen Blattspitzen aus Kösten und die Funde vom Staffelberg besitzen noch heute große Bedeutung für die Kenntnis der Vorgeschichte am Obermain. Die Sammlung nach 1946 Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wurde Prof. Lothar Zotz (1899-1967) 1946 mit der kommissarischen Leitung des Instituts und der Sammlung beauftragt. Er veranlasste die Inventarisierung der Bestände, mit der bereits Gerlach begonnen hatte, die nach seinem Tod aber nicht mehr weitergeführt worden war. Heute sind sämtliche Funde in Bandkatalogen mit Zeichnungen und Photographien erfasst, eine Datenbank ist im Aufbau. 1957/1958 zog die Sammlung aus dem Gebäude der Anatomie in
das neu errichtete Philosophische Seminargebäude in der Kochstraße. Neue Vitrinen wurden erworben, so dass die Sammlung bald wieder für das Stadtpublikum öffentlich zugänglich war. 1959 begann Zotz mit Ausgrabungen an mehreren altsteinzeitlichen Fundstellen des unteren Altmühltals: im „Abri im Dorf“ Neuessing, unterhalb der Klausenhöhlen, in der Obernederhöhle und im „Abri im Pfaffenholz“. Durch Veränderungen in den lokalen Besitzverhältnissen wurde es 1964 möglich, mit Untersuchungen in der Sesselfelsgrotte über den Häusern von Neuessing zu beginnen. Die Arbeiten zogen sich über viele
Abb. 5: Karteikarte der Vor- und Frühgeschichtlichen (Privat-) Sammlung Gerlach. Knochen mit Pfeilzeichen aus LaugerieIntermédiaire (Dordogne, Frankreich), Grabung Otto Hauser 1914.
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Ch. Züchner, Die altsteinzeitlichen Funde in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung
Abb. 6: Aurignacien-Funde aus der Obernederhöhle.
Jahre hin. Nach dem Tod von Zotz leitete Prof. Gisela Freund die Forschungen von 1967 bis 1981. Alle Funde, rund 100.000 Steingeräte und etwa genauso viele Tierreste und die Fundstelle selbst gingen in das Eigentum der Universität über. In den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg waren die Bodendenkmalpflege und die Museumslandschaft in Bayern noch nicht so gut ausgebaut wie heute. Erlangen war und ist noch heute die einzige Universität in Bayern, an der die Altsteinzeit einen Forschungsschwerpunkt bildet. Deshalb kamen damals immer wieder Kollegen und Laien mit paläolithischen und mesolithischen Funden in das Institut, um sich beraten zu lassen. Daraus entwickelten sich bald persönliche Beziehungen, in deren Folge die Sammlung einige große Privatsammlungen geschenkt bekam. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Alexander Oberneder, der seine mittelpaläolithischen Funde aus der nach ihm benannten Obernederhöhle bei Kelheim schenkte, und Wilhelm Frantzen, der seine paläolithischen und neolithischen Funde aus der Umgebung von Kronach der Universität als Nachlass vermachte. Wegen der Bedeutung Erlangens als Standort der Urgeschichtsforschung wurden hier 2003 die Funde aus dem „Abri I“ am Schulerloch zum Verbleib und zur weiteren Bearbeitung deponiert. 2007 wurden der Sammlung mehrere Hundert altpaläolithischen Funde von Chirki östlich Poona (Indien) als Dauerleihgabe durch die indischen Behörden
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anvertraut, die mit der Ausgräberin der Fundstelle, Gudrun Corvinus, in Laufe der wissenschaftlichen Bearbeitung nach Erlangen gelangt waren. Durch die eigenen Forschungen des Instituts und diese Schenkungen beherbergt die Urund Frühgeschichtliche Sammlung der Universität heute neben der Archäologischen Staatssammlung in München die größten und wichtigsten altsteinzeitlichen Bestände Bayerns mitsamt einer sehr umfangreichen Dokumentation.
Literatur Geer, H. (1971), Unveröffentlichte Fundkomplexe aus den Grabungen Otto Hausers in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg. Ein Beitrag zur Erforschung klassischer Stationen des Paläolithikums in Südwestfrankreich. Dissertation Erlangen. Reisch, L.. (2000), Von den „Prähistorika“ der Anatomischen Sammlung zum Institut für Ur- und Frühgeschichte. Historische Forschung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. – Neuhaus, H. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Erlangen. Erlanger Studien zur Geschichte 6, 171-196. Erlangen und Jena. Züchner, Chr. (1993), Die Ur- und Frühgeschichtliche
gen-Nürnberg 1743 - 1993. Geschichte einer deutschen Hochschule: Ausstellung im Stadtmuseum Erlangen, 24.10.1993 - 27.2.1994. – Veröffentlichungen des Stadtmuseums Erlangen 43, 625-632. – (2007), Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung. – Andraschke, U. & M. M. Ruisinger (Hrsg.) (2007), Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg. Begleitband zur Ausstellung „Ausgepackt. Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg“, 20. Mai – 29. Juli 2007, Stadtmuseum Erlangen, 202-212. Nürnberg.
Abb. 7: Kösten bei Kronach, Kratzer, Stichel und Rückenspitzen des Spätpaläolithikums.
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Die „Sammlung Neischl“ der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg e.V. ANDREaS DIRIAN (Erlangen)
Die Naturhistorische Gesellschaft Nürnberg verzeichnet im Einlaufbuch Band 5 von 1906 als Geschenk des Herrn Major Dr. Neischl Funde, die aus der Sammlung Hauser erworben wurden und die lt. Eintrag „die ganze französische Steinzeit umfassen“. Otto Hauser war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1914 als Forscher und Geschäftsmann in der Dordogne tätig und verkaufte viele der ausgegrabenen Fundstücke an Museen und Privatsammler. Über diesen äußerst qualitätvollen Fundbestand von mehr als 1000 Stein- und Knochenartefakten, der im Katalog der NHG als „Major Dr. Neischl-Sammlung“ geführt wird, ist in der Literatur leider sehr wenig bekannt (Geer 1971, Anm. 12). Major Dr. Adalbert Neischl (1853 – 1911) erwarb sich schon während seiner Dienstzeit umfangreiche Kenntnisse auf geologischem, geographischem und physikalischem Gebiet. Im Jahr 1900 wurde Ausschnitt aus der Ankaufsliste Neischls von 1906. Rechts die Objekte taxiert von Hugo Obermaier.
er als Bataillonskommandeur nach Erlangen versetzt und promovierte 1903 mit einer geologischen Dissertation über Höhlen der Fränkischen Schweiz an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen. Er war langjähriges Mitglied der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg und wurde 1907 zum Ehrenmitglied ernannt. Auf deren Wunsch übernahm er die Untersuchung der vor- und frühgeschichtlichen Wallanlagen auf dem Rauhen Kulm in der Oberpfalz. Er wurde wegen seiner umfangreichen Stiftungen, mit denen die Sammlungs- und Bibliotheksbestände ergänzt werden konnten, gewürdigt. Zudem finanzierte er Ausgrabungen der NHG. Otto Hauser (1874 – 1932), Schweizer Archäologe und Antiquitätenhändler, verdiente sich schon in seiner Studienzeit seinen Lebensunterhalt durch Ausgrabungen und dem Verkauf der Funde, was
Abb. 1: Neischl-Sammlung. Steinartefakte aus Combe-Capelle.
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A. Dirian, Die „Sammlung Neischl“ der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg e.V.
Abb. 2: Neischl-Sammlung. Steinartefakte von Le Moustier.
Abb. 3: Neischl-Sammlung. Projektilspitzen aus Laugerie-Haute.
zu dieser Zeit üblich war (siehe auch Beitrag C. Züchner zur Erlanger Sammlungsgeschichte). Nach Schwierigkeiten in der Schweiz sah er sich nach neuen Tätigkeitsfeldern um. 1898 reiste er in die Dordogne, wo in den Höhlen und Abris des Vézère-Tales ungeheure Mengen an Artefakten und Kunstgegenständen des eiszeitlichen Menschen entdeckt wurden. Sofort erkannte er die Möglich- und Notwendigkeit, in diesem Gebiet zu arbeiten. Schon auf dieser ersten Reise schloss er Bekanntschaft mit D. Peyrony, Lehrer und einer der wichtigsten Ausgräber in Les Ezyies, von dem er Sammlungen prähistorischer Funde aufkaufte (Drößler 1988, 74). Schon 1898 und dann bei seiner zweiten Reise 1899 unternahm er kleinere Sondagen im Abri von Laugerie-Basse und an anderen Orten im Périgord (Drößler 1988, 81). Aber erst 1906 begann er mit systematischen Ausgrabungen in La Micoque. Er legte Profile an, die eingemessen und gezeichnet wurden, auch die Funde wurden durchnummeriert. 1907 stellte Hauser bei einem Kongress anlässlich der Eröffnung des Anthropologischen Museums in Köln Funde und Ergebnisse seiner Forschungen vor. Ein großer Teil seiner ausgestellten Objekte wurde von einem Mäzen gekauft und dem
Museum Köln geschenkt. Schon ein Jahr zuvor hatte Hauser der NHG eine Sammlung paläolithischer und neolithischer Artefakte zum Kauf angeboten (Geer 1971, Anm. 12; Drößler 1988, 108). Auf Veranlassung der NHG erstellte der international bekannte Archäologe Hugo Obermaier im März 1906 ein Gutachten, in dem er die Sammlung empfahl und eine Summe von maximal 1500 Mark als Kaufpreis vorschlug. Der erste Kontakt zwischen der NHG und Hauser war vermutlich April 1906 hergestellt worden. Im Anschluss an einen Kongress für Anthropologie und Urgeschichte, der in Monaco stattfand, traf sich eine Reisegruppe der NHG in Les Ezyies mit Hauser. Unter ihnen waren Dr. Bernett, der Direktor des Naturhistorischen Museums Nürnberg sowie der Fabrikant W. Rehlen aus Nürnberg, von dem sich auch Objekte in der Sammlung der NHG befinden. Ob Major Dr. Neischl persönlichen Kontakt mit Hauser hatte, geht aus der Literatur und den Akten nicht hervor. Im Einlaufbuch Band 5 von 1907 wird lediglich ein „Angebot bzw. Copie des Briefes Hauser an den Herrn Major vom 9. Mai 1906“ erwähnt. Die von Hauser erworbenen Funde
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der Neischl-Sammlung gehören somit einer sehr frühen Phase seiner Arbeiten im Tal der Vézère an, was sie für die Forschung besonders interessant macht. Vermutlich stammen nicht alle Funde aus Hauser-Grabungen, ein Teil war wohl von Peyrony aufgekauft worden. Major Dr. A. Neischl tritt hier eher als Mäzen und Stifter denn als eigentlicher Sammler auf. Die Neischl-Sammlung der NHG umfasst Funde aus 10 verschiedenen Fundstellen. Die ältesten Artefakte stammen aus Combe-Capelle. Hinzugezählt werden Stücke mit dem Fundstellennamen Roffy, die nach einer Anmerkung im Katalog wohl zu Combe-Capelle gehören. Bei den ca. 30 Artefakten handelt es sich überwiegend um Faustkeile verschiedener Form und Größe sowie um Schaber (Abb. 1). Der trianguläre Faustkeil spricht für eine späte Stellung innerhalb des Mittelpaläolithikums. Im Innern des Abri wurden kein mittelpaläolithischen Werkzeuge gefunden (Bordes 1984, 161ff; de Sonneville-Bordes 1960, 115f). Verschiedene Moustérien-Inventare, darunter auch eine Fazies des Moustérien de tradition acheuléen, wurden dagegen auf naheliegenden Hangterrassen gefunden, die vom Plateau Ruffet herabfallen. Der
Name „Ruffet“ könnte Hausers Fundstellen von Roffy entsprechen. Hauser selbst grub in CombeCapelle erst ab dem Jahr 1909. 43 Artefakte kommen lt. Katalog aus einer Fundstelle namens Besch de bourg. Es könnte sich hier um den Fundplatz Pech de Bourre im Tal der Dordogne handeln, bei dem Spuren von Aurignacien gegraben wurden (de Sonneville-Bordes 1960, 109). Der in Nürnberg liegende Bestand ist typologisch sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Neben einem Faustkeil erscheinen überwiegend Schaber, aber auch jungpaläolithische Geräte wie Klingenkratzer und Stichel. Eine der forschungsgeschichtlich bedeutendsten altsteinzeitlichen Fundstellen Südwestfrankreichs ist Le Moustier. Erste Untersuchungen begannen bereits 1863 im Abri classique von Le Moustier. Peyrony grub 1905 auf Terrassen vor der Abriwand verschiedene Moustérienschichten sowie Schichten des Aurignacien und Solutréen aus. Hauser begann mit seiner Grabung im August 1907. Aus Le Moustier liegen 63 Artefakte vor. Sie bilden ein relativ einheitliches Inventar, in dem Schaber bei weitem dominieren. Hinzu kommen Moustierspitzen und Kratzerformen
Abb. 4: Neischl-Sammlung. Knochenspitzen aus Laugerie-Haute. Abb. 5: Neischl-Sammlung. Basisfragment eines Lochstabs aus LaugerieBasse.
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A. Dirian, Die „Sammlung Neischl“ der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg e.V.
Abb. 6: Neischl-Sammlung. Steinartefakte aus Petit-Puyrousseau.
Abb. 7a: Neischl-Sammlung. Harpune und Knochenspitzen aus Petit-Puyrousseau.
(Abb. 2). Auch Grundformen wie Abschläge und Levalloiskerne sind vorhanden. Mit 284 inventarisierten Stücken kommt der umfangreichste Bestand der Neischl-Sammlung aus dem großen Abri von Laugerie-Haute. Er gliedert sich in 100 paläolithische, nach Hauser dem Solutréen zugehörige Steinartefakte, 125 Knochenartefakte, die er dem Magdalénien zuweist, sowie 59 neolithische Pfeilspitzen. Laugerie-Haute wurde schon frühzeitig von zahlreichen Archäologen ausgegraben, wobei eine klassische Abfolge verschiedener Solutréenschichten festgestellt wurde, die von Horizonten des Magdalénien überlagert wird. Eine neolithische Kulturschicht wurde durch Hauser bei Beginn seiner Grabungen im Jahr 1907 weitgehend zerstört (D. & E. Peyrony 1938, 75). Die Nürnberger Objekte lassen sich zwanglos in die verschiedenen Schichten von Laugerie-Haute einordnen. Die zahlreichen und schönen Blatt- und Kerbspitzen werden durch Geräte wie Klingenkratzer, Stichel und Bohrer ergänzt (Abb. 3). Unter den Knochenartefakten herrschen relativ große und massive Knochenspitzen vor, zusätzlich gibt es Ahlen und
Pfrieme (Abb. 4). Auffallend ist eine Reihe von Werkstücken aus Knochen und Geweih. Auch Laugerie-Basse war schon frühzeitig das Ziel verschiedener Ausgräber und Schatzsucher, die große Teile des Schichtpaketes zerstörten (Drößler 1988, 75). Hauser konnte 1907 ein von ihm als „Schnitzereiwerkstätte“ gedeutetes Fundareal untersuchen, in dem sich neben zahlreichen Knochenwerkzeugen auch viele Knochen von Rentier und Bison mit Bearbeitungsspuren fanden (Hauser 1917, 37ff; Drößler 1988, 98f ). Aus Laugerie-Basse liegen in Nürnberg 67 Objekte aus organischem Material sowie 57 Steinartefakte vor. Neben Knochenspitzen erscheinen auch größere Geräte wie Pfrieme und Meißel, aber nur wenige Knochennadeln und das Fragment eines Lochstabes (Abb. 5). Acht Zähne werden von Hauser als Schmuckgegenstände bezeichnet. Einen sehr heterogenen Eindruck macht das Silexmaterial. Neben Schabern, Bohrern und Sticheln treten viele z.T. massive Klingenkratzer auf, neben schönen Blattspitzen und Pointes à face plan auch verschiedene Rückenspitzenformen wie Gravettespitzen und konvexe Rückenspitzen. Die Geräte
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stammen wahrscheinlich aus verschiedenen Schichten. 73 Artefakte kommen aus der Fundstelle Badegoule, die im Katalog der Neischl-Sammlung missverständlich den Namen Pas de Goule trägt. Hauser grub hier anscheinend drei Jahre lang aus. Gefunden wurden Schichten des Solutréen und frühen Magdalénien (de Sonneville-Bordes 1960, 301f ). Ein Teil der in Nürnberg befindlichen Geräte von Badegoule kommt sicher aus einer Solutréenschicht, es handelt sich dabei um Blattspitzen und Solutréenkerbspitzen. Im Übrigen ist das Inventar vermischt, denn mit mehreren Pfeilspitzen ist auch das Neolithikum belegt. Nur wenig bekannt ist der Fundplatz Puy Rousseau, der bei de SonnevilleBordes (1960, 211) unter Abri du Petit-Puyrousseau aufgelistet ist. Wohl um 1875 wurden hier Funde des Périgordien supérieur ausgegraben. Die in Nürnberg liegenden Stücke aus dieser Fundstelle gehören wohl zum schönsten Bestand der Neischl-Sammlung. Mit einigen Rückenspitzen und Rückenmessern sowie Bohrer, Kratzer und Stichel an Endretusche ist wohl ein Magdalénien belegt (Abb. 6). Bemerkenswert sind insgesamt 73 sehr schöne, qualitätvoll produ-
zierte Knochengeräte. Darunter gibt es zahlreiche Formen, wie Nadeln, auch solche mit Öhr, zierliche Knochenspitzen und Ahlen, sowie die Fragmente einer einreihigen Harpune und eines Lochstabes (Abb. 7a,b).
Abb. 7b: Neischl-Sammlung. Knochenspitzen und Nähnadeln aus Petit-Puyrousseau.
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A. Dirian, Die „Sammlung Neischl“ der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg e.V. aus Grand-Pressigny-Feuerstein (Abb. 8a) handelt es sich dabei fast ausschließlich um Pfeilspitzen (Abb. 8b). Diese Fundstelle ist möglicherweise identisch mit dem Abri de la Fontaine de Gaudonne, in dem Hauser und Peyrony jeweils Sondagen durchgeführt haben (de Sonneville-Bordes 1960, 447). Mit nur kleinen Fundserien sind zwei weitere Fundstellen in der Neischl-Sammlung vertreten. Ca. 25 Artefakte stammen aus einem Abri bei Les Ezyies, mit konvexen Rückenspitzen und Rückenmessern ist hier eindeutig ein Magdalénien repräsentiert. Lediglich 7 Geräte, aber alle schöne Aurignacienkratzer, kommen aus dem Abri von La Ferrassie (Abb. 9).
Abb. 8a: Neischl-Sammlung. Steinartefakt aus Gaudonne.
Unter der Fundortbezeichnung Roches de Gondand wird im Katalog der NHG eine Serie von fast 200 neolithischen Artefakten geführt. Neben wenigen massiven Kratzern und einem schönen Dolch
Insgesamt gesehen stehen sich in der Neischl-Sammlung einheitliche Inventare wie von Le Moustier, Petit-Puyrousseau und Roches de Gondand mit Funden, die vermutlich aus einer Kulturschicht kommen, und Inventare wie Laugerie-Haute und Laugerie-Basse, die einen repräsentativen Querschnitt einer Schichtenfolge enthalten, gegenüber. Es handelt sich überwiegend um ausgesuchte, im heutigen Empfinden besonders „qualitätvolle“
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Artefakte, die gemäß des Einlaufbuches ja einen repräsentativen Querschnitt bieten und „…die ganze französische Steinzeit umfassen…“ sollten. Eine solche, aus heutiger Sicht eher selektive Zusammenstellung ist von der NHG vermutlich damals so gewünscht worden. In der Schausammlung sollten damit die wichtigsten Artefakttypen der französischen Urgeschichte, die um 1900 zusehends in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte, einem breiten Publikum präsentiert werden.
Literatur Bordes, F. (1984), Lecons sur le paléolithique. Tome I. Cahiers du quaternaire 7. Paris. Drössler, R. (1988), Flucht aus dem Paradies. Leben, Ausgrabungen und Entdeckungen Otto Hausers. Leipzig. Geer, H. (1971), Unveröffentlichte Fundkomplexe aus den Grabungen Otto Hausers in der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg. Ein Beitrag zur Erforschung klassischer Stationen des Paläolithikums in Südwestfrankreich. Dissertation Erlangen. Hauser, O. (1917), Der Mensch vor 100 000 Jahren. Leipzig.
Neischl, A. (1904), Die Höhlen der Fränkischen Schweiz und ihre Bedeutung für die Entstehung der dortigen Täler. Nürnberg. Peyrony, D. & F. (1938), Laugerie-haute. Près des Eyzies (Dordogne). Paris. Sonneville-Bordes, D. de (1960), Le paléolithique en Périgord. Bordeaux.
Abb. 8b: Neischl-Sammlung. Pfeilspitzen aus Gaudonne.
Abb. 9: Neischl-Sammlung. Kratzer aus La Ferrassie.
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Kleines Glossar zur Archäologie des Eiszeitalters Leif Steguweit & Studierende des Instituts für Ur- und Frühgeschichte Erlangen
Abschlag Grundform bei der Herstellung von Steinartefakten. Der A. wird durch typischen Sprödbruch von einem größeren Ausgangsstück (Kern) abgetrennt wird. Das Rohstück besteht aus amorphem oder kryptokristallinem Gestein (Feuerstein, Rhyolith bzw. Obsidian, Quarz, Quarzit, Muschelkalk, Kieselschiefer, Jaspis, Chalzedon, Bergskristall, u.a.), wodurch ein meist muscheliger Bruch mit typischen Schlagmerkmalen entsteht. Acheuléen 1,6 Mio – 150.000 v.h. Begriff 1872 von G. de Mortillet eingeführt, nach dem Fundort St. Acheul bei Amiens (Frankreich). Faustkeilführende Kultur des Alt- und Mittelpaläolithikums, die vor ca. 1,6 Mio Jahren mit dem ältesten Nachweis im „Upper Bed II“ der Olduvai-Schlucht (Tansania) beginnt und mit Inventaren im Vorfeld der Saale-Vereisung (ca. 180 – 150.000 v.h.) endet. Verbreitung
Nord, Ost- und Westafrika, Europa, Westasien und Indien. Das europäische A. (ab ca. 500.000 v.h.) wird 1924 von H. Obermaier in Alt- und Jung-A. geteilt (Grenze ca. 300.000 v.h.); K. Günther schlägt 1964 zusätzlich das Spätacheuléen vor. Das afrikanische A. wird mit Homo ergaster assoziiert, das europäische Alt-A. mit Homo heidelbergensis. Die große Zahl von Fundstellen des Jung-A. im Vorfeld der Saale-Eiszeit deutet auf fortlaufende Tradierung durch den Neandertaler. Das Ende des A. ist unklar umrissen. So zeigt sich, dass viele Inventare der 1967 von G. Bosinski eingeführten „Lebenstedter Gruppe“ des Jungacheuléen heute in die mittlere Würm-/ Weichseleiszeit (60 – 50.000 v.h.) zu datieren sind. Seit ca. 100.000 v.h. bestehen fließende Grenzen des A. zum Mousterien de tradition A. (z.B. Fundstelle Ochtmissen bei Lüneburg) und dem Micoquien (z.B. Fundstelle Salzgitter-Lebenstedt). Hauptcharakteristikum ist stets das Vorhandensein
von Faustkeilen, verbunden mit einer großformatigen Abschlag-Industrie mit Schabern. Sowohl die evolutionistische Sichtweise eines primitiven A. (Abbevillien oder Protoacheuléen), als auch die Gegenüberstellung faustkeilfreier Inventare als Clactonien sind heute überholt. Obwohl ein genereller Entwicklungstrend zu regelmäßigen und dünneren Faustkeilen besteht, kommen diese vereinzelt schon ca. 500.000 v.h. vor (z.B. Boxgrove, England). Aus Fundstellen des A. sind selten Siedlungsstrukturen bekannt; häufig dagegen sind dislozierte Artefaktsammlungen aus Schotterkörpern. Vereinzelt Schlagstätten (z.B. Boxgrove, Markkleeberg FK II, Maastricht-Belvedere, Zwochau). Keine Bestattungen nachgewiesen. Alleröd ca. 11.900 – 10.760 v.Chr. Globale Wärmeschwankung des Spätglazials, nach der Lypuslokalität nordwestlich von Kopenhagen (Dänemark). Im A. (= Grönland-Interstadial 1c) in
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Kleines Glossar zur Archäologie der Eiszeit Mitteleuropa erste flächige Wiederbewaldung nach der letzten Eiszeit. Die Datierung ist heute mit Hilfe der Dendrochronologie abgesichert; im Jahre 10.966 v. Chr. erfolgt mit dem Ausbruch des Laacher Vulkans außerdem ein herausragendes geologisches Ereignis (großflächige Ablagerung von Bimstuff, bis Nordeuropa nachweisbar). Der erste Abschnitt des A. ist durch lichte Birkenwälder geprägt, später geschlossene Bewaldung (Kiefer dominant). Damit werden die großen Herden des Offenlandes als Lebensgrundlage der Jäger des Magdaléniens verdrängt. Infolgedessen werden Siedlungen und Jagdlager kleiner; archäologische Hinterlassenschaften des A. werden in Norddeutschland nach der typischen Steingerätform als Federmesser-Gruppen bezeichnet. In Süddeutschland Kontaktzone zum späten Magdalénien. AMS-Datierung (engl. Accelerator Mass Spectrometry: Beschleuniger-Massenspektrometrie) Spezielles Verfahren der Radiokarbondatierung, nach 1977 vorgestellten Grundlagen zur direkten Messung des Kohlenstoffisotops 14C. Es beruht wie die so genannte „konventionelle Radiokarbondatierung“ auf der Bestimmung der Konzentration des Isotops 14C in organischen Materialien (z.B. Holz, Holzkohle, Makrofossilien, Torf, Sedi-
mente, Knochen, Textilien, Muscheln, Karbonate). Im Gegensatz zur konventionellen Zählrohrmessung erfolgt die Messung hier über einen ultrasensitiven Massenspektrometer, bei dem der Untergrund aus Molekülen und Atomen abgetrennt und das Isotop 14C direkt – d.h. ohne seinen radioaktiven Zerfall – gemessen werden kann. Der Hauptvorteil liegt in dem geringeren Verbrauch von Probenmaterial (Mindestmenge nur ca. 10 mg Kohlenstoff ) und in der wesentlich kürzeren Messzeit. Auch wenn in der Praxis Probenmengen von 1-2 g bei Holzkohlen und 20-30 g bei Knochen üblich sind, ermöglicht die A. eine wesentlich zerstörungsärmere Datierung wertvoller bzw. sehr kleiner Fundobjekte. Aurignacien ca. 40.000 BP – 30/27.000 BP Als „Aurignac-Kulturstufe“ 1867 von G. de Mortillet eingeführt, nach den seit 1860 von E. Lartet in der Höhle von Aurignac (Pyrenäen, Frankreich) durchgeführten Grabungen mit den dort erstmals als typisch erkannten Werkzeugen. Älteste Kulturstufe des Jungpaläolithikums. Verbreitung Frankreich, Spanien, Südosteuropa, Mitteleuropa mit Fundschwerpunkt in Mähren (hier meist Oberflächenfundplätze); im Osten bis Vorderasien und Südsibirien.
119 Träger des A. ist Homo sapiens, während dem Neandertaler heute ausschließlich Formen des Mittelpaläolithikums zugeschrieben werden. In der Werkzeugherstellung deutliche Unterschiede zum Mittelpaläolithikum, vor allem durch regelmäßig hergestellte Klingen unter Verwendung eines Leitgrades sowie Geschossspitzen aus Knochen; keine Faustkeile mehr. Die Lebensweise der Menschen ist geprägt von einem kalten und trockenen Klima, mit einer erhöhten Siedlungsdichte in den Interstadialen. Erste Belege für Spezialisierung auf die Mammutjagd. Erstmals in Europa figürliche Kunstwerke, wie Schnitzereien aus Mammutelfenbein (Geißenklösterle, Vogelherd, Hohlenstein-Stadel in Baden-Württemberg; Kostenki in Russland). Die derzeit einzigen Fundorte des A. mit menschlichen Fossilien sind Mladeč (dt.: Lautsch) in Mähren und Kostenki (Russland). Aurignac-Spitze Begriff um 1900 von H. Breuil eingeführt, als Synonym für die – meist aus Knochen (seltener Geweih) hergestellten – Geschoßspitzen mit gespaltener Basis. Kennzeichnendes Gerät des frühen Aurignacien. Fundstellen in Deutschland sind beispielsweise das Geißenklösterle und die Vogelherdhöhle in Baden-Württemberg.
Azilien Begriff von E. Piette 1889 nach Grabungen in Mas d´Azil (Südfrankreich). Kultur des mittel- und westeuropäischen Spätpaläolithikums; im deutschen Sprachraum heute meist als Federmesser-Gruppen bezeichnet. Blattspitze Begriff um 1900 für symmetrische, spitzovale paläolitische Spitzen aus Feuerstein aufgekommen. Blattförmiges, mindestens partiell bifaziell gearbeitetes, axialsymmetrisches Steinwerkzeug mit schlankem Längsschnitt. 1929 wurde wegen des Leitform-Charakters der Begriff „Blattspitzengruppen“ für Inventare des späten Mittelpaläolithikums eingeführt (synonym: „Altmühl-Gruppe“, „Szeletien“). B. kommen außerdem im jüngeren Gravettien vor (z.B. Petrkovice, Mähren; Moravany, Slowakei), ohne dass ein tradierter Zusammenhang zum späten Mittelpaläolithikum nachweisbar wäre; außerdem mit meist perfekter Flächenüberarbeitung im Solutreen, im osteuropäischen Mesolithikum und als Dolche im Neolithikum und der frühen Bronzezeit. Verwendung der älteren Formen wahrscheilich als Speerbzw. Lanzenspitzen, evt. ebenfalls als Dolche. Breitdreieckige Formen (Streletskaya-K.) deuten mit Sicherheit auf Verwendung als Projektile.
Châtelperronien ca. 40.000 – 30.000 BP Begriff 1906 von Breuil nach der „Grotte des Fées“ bei Châtelperron (NW-Frankreich) als älteste Stufe des Aurignacien eingeführt; 1933 von Peyrony als älteste Stufe des Périgordien bezeichnet (auch „Castelperronien“). Übergangsindustrie zwischen Mittel- und Jungpaläolithikum. Hauptverbreitung in Frankreich und Nordspanien; Daten überschneiden sich mit dem Aurignacien. Charakteristisch sind die C.-Spitzen, doch gibt es genauso Elemente des späten Moustérien (z.B. Schaber, Levalloistechnik) wie solche des frühen Aurignacien (Kratzer, Stichel, Geschossspitzen, Schmuck). Aufgrund von Menschenresten in St. Césaire oder in der „Grotte du Renne“ in Arcy-sur-Cure wahrscheinlich mit dem H. neanderthalensis assoziiert. Chopper (engl. chop: hacken) Aus rundlichem oder ovalem Geröll durch Behauen einer Kante hergestelltes Schneide- und Hackwerkzeug des ältesten Paläolithikums (seit ca. 2,5 Mio. Jahren in Afrika). Chopper sind damit die ältesten Kerngeräte, die z.T. nur ein oder zwei Abschlagnegative aufweisen. Clactonien Begriff 1929/30 von Warren eingeführt und ausführlich begründet 1932 durch
H. Breuil, nach Grabungen in Clactonon-Sea (Essex). Altpaläolithische Kultur, ursprünglich als älteste Abschlagkultur bestimmt, heute nur noch forschungsgeschichtlich von Bedeutung. Als weitere Fundstellen wurden z.B. Swanscombe oder auch Little Thurrock angesehen. Das C. ist gekennzeichnet durch die in Clacton-Technik hergestellten Abschläge und die Abwesenheit von Faustkeilen und standardisierten Gerätetypen. Von Breuil als eine Kultur älter als das Acheuléen interpretiert, als cromerzeitlich (Cromer-Komplex) bezeichnet. Von einigen Forschern aber auch als gleichzeitig mit dem frühen Acheuléen angesehen, es sollten zwei unterschiedliche Menschengruppen auf verschiedenen Umweltarealen verteilt gelebt haben. Das C. wurde außerdem lediglich als eine Fazies innerhalb des Acheuléen betrachtet. Zeitlich wurde das C. auch an den Beginn der Holstein-Warmzeit oder in die Mitte dieser Warmzeit gestellt. Durch die sehr weit gefasste Definition wurden plötzlich überall C.-Abschläge gefunden. Noch in den 1960er Jahren von F. Bordes wieder als eigenständige Kultur eingeführt, widerlegen neuere Forschungsergebnisse diese Theorie. Das C. wird nicht mehr als eigenständige Kultur angesehen, sondern als eine Fazies-Ausprägung innerhalb des Acheuléen.
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Kleines Glossar zur Archäologie der Eiszeit Cromer-Komplex ca. 900.000 – 500.000/450.000 v. Chr. Begriff 1882 vom britischen Geologen Clement Reid eingeführt. Warmzeitenfolge von mindestens 4 (evt. 5) Warmzeiten des späten Alt- und frühen Mittelpleistozäns (Pleistozän). In der Folge Cromer II liegt die geomagnetische Matuyama-Brunhes-Grenze (780 000 Jahre v.h.), mit der der Wechsel vom Alt- zum Mittelpleistozän definiert ist. Auf den C. folgen die Vereisungen (Glaziale) des oberen Mittelpleistozäns. Während des C. erfolgt die Einwanderung des Waldelefanten und der Begleitfauna (die sog. Paleoloxodon-Fauna: z.B. mit dem Merck´schen Nashorn), zunächst nach Südeuropa, in Mitteleuropa wahrscheinlich erst im Cromer IV-Stadium. Diese wird als „Mauer-Waldzeit“ bezeichnet, nach Mauer bei Heidelberg. In denselben Schichten wurde 1907 der Unterkiefer des Homo heidelbergensis gefunden, der lange Zeit als ältester Europäer außerhalb des Mittelmeerraumes galt.
dem Tiefsee-Isotopenstadium 5e. Der Beginn der E. vor 130.000 Jahren markiert zugleich den Übergang vom Mittel- zum Jungpleistozän. Auf die E. folgen zwei weitere Interstadiale der frühen Weichsel-Eiszeit (Norddeutschland) bzw. Würm-Eiszeit (Süddeutschland).
Eem-Warmzeit ca. 130.000 – 116.000 v.h. Als E. wird in Europa das Interglazial vor dem Holozän bezeichnet (auch „letzte Warmzeit“ oder „letztes Interglazial“ genannt), benannt nach der typischen Pollenabfolge im Gebiet des niederländischen Flüsschens Eem. Sie entspricht
Eiszeitkunst Begriff für die Kunst der Würm- bzw. Weichsel-Eiszeit, die der nach Europa eingewanderte Homo sapiens angefertigt hat. Sie umfasst damit im wesentlichen die archäologischen Kulturstufen Aurignacien, Gravettien, Solutréen und Magdalénien.
Eiszeit Begriff 1837 von K. F. Schimper eingeführt. E. wird heute synonym für Glazial (Kaltzeit) verwendet, während der ursprünglich damit umrissene Zeitraum (seit ca. 2,4 Mio Jahren) mit „Eiszeitalter“ (Pleistozän) bezeichnet wird. Die drei wichtigsten nordmitteleuropäischen E. wurden ebenfalls nach Flüssen benannt, die für die entsprechende, jeweils am weitesten nach Süden reichende Randlage des nordischen Eisschildes stehen: Elster, Saale- und Weichseleiszeit. Innerhalb einer E. wurden den Ozeanen große Mengen Wasser entzogen, wodurch der Meeresspiegel um bis zu 120 m absank.
121 Medien der E. sind die Höhlenmalerei (v.a. Frankreich, Spanien) sowie die Wandkunst im erweiterten Sinne (Art pariétal), wie auch mobile Kleinkunst (Art mobilier). In Deutschland (v.a. in Süddeutschland) wurden in Schichten des Aurignacien herausragende Figuren aus Mammutelfenbein gefunden, wie der Löwenmensch aus dem Hohlenstein-Stadel im Lonetal, die sog. „Vogelherd-Figuren“ aus der Vogelherd-Höhle im Lonetal (BaWü) sowie aus dem Hohlen Fels und dem Geissenklösterle im Achtal (BaWü). Aus dem Magdalénien stammen die eingeritzten Frauendarstellungen aus Gönnersdorf im Rheinland. Auch nichtfigurativer Schmuck und Dekorationselemente bilden einen bedeutenden Anteil der E., wie durchlochte Tierzähne, Elfenbeinanhänger, Schmuckmollusken, Knochen- und Elfenbeinflöten, Lochstäbe u.a. Elster-Eiszeit/ Elsterglazial ca. 480.000 – 420.000 v.h. Benannt nach der Eisrandlage des nordischen Gletschers am mitteldeutschen Fluss Weiße Elster; generell reicht die Vereisung in Sachsen und Thüringen bis an die Mittelgebirgsschwelle. Erste Eiszeit im Bereich des nordischen Inlandeises, entspricht der alpinen Mindel-Eiszeit und am wahrscheinlichsten dem marinen Sauer-
stoff-Isotopenstadium (OIS) 12. Die E. folgt auf die Voigtstedtwarmzeit des späten Cromer-Komplexes. Das zweiphasige Hochglazial der E. hat ihren Niederschlag vor allem in mächtigen Geschiebemergeln gefunden. Mit den Sedimenten der Grundmoräne wurde erstmals nordischer Feuerstein nach Nord- und Mitteldeutschland transportiert, dessen südliche Verbreitungsgrenze als „Feuersteinlinie“ bezeichnet wird. Auf die E. folgt die Holstein-Warmzeit (Interglazial), von der erste nordische Feuerstein-Artefakte überliefert sind (z.B. in Bilzingsleben, Clacton-on-Sea). Experimentelle Archäologie Grundsätze 1973 von J. Coles beschrieben. Die E. A. (lat. Versuch) testet anhand als analog angesehener Handwerkstechniken, Arbeitsschritte oder Materialprüfungen die hypothetischen Prozesse vorgeschichtlicher Sachverhalte. In Deutschland begann sich erst in den 1970-er Jahren eine Szene der E.A. herauszubilden, u.a. mit den experimentellen Museumsdörfern Oerlinghausen und Berlin-Düppel. Bahnbrechend für die weitere Entwicklung waren die von M. Fansa (Oldenburg) herausgegebenen Bände „Experimentelle Archäologie“ 1-8 (1990 – 2001). Ein Grundzug der E.A. ist die größtmögliche Authentizität (Verwendung
ausschließlich originaler Materialien, Werkzeuge/Geräte und Methoden), sowie die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse unter identischen Bedingungen (Protokollführung). In diesem Zusammenhang betonen Vertreter der E.A. den Unterschied zwischen Museumspädagogik und tatsächlichem Experiment und versuchen, diesbezügliche Qualitätsstandards einzuführen. Faustkeil Ein aus einem Kern, dicken Abschlag oder Naturstück in direkter Schlagtechnik beidseitig zugerichtetes Werkzeug (dt. auch „Zweiseiter“); kennzeichnender Gerättyp des Acheuléen. Die ältesten „Proto-Faustkeile“ stammen aus dem „Upper Bed II“, einer Formationder Olduvai-Schlucht in Tansania und sind ca. 1,6 Mio Jahre alt. Tradierung bis in das späte Moustérien und Micoquien an der Grenze vom Mittelzum Jungpaläolithikum. Glazial (lat. glacies: Eis) Kaltzeit (Eiszeit) innerhalb des Pleistozäns, innerhalb derer es Kaltphasen (Stadial) und weniger kalte Phasen (Interstadial) gibt. Das G. des europä-ischen Pleistozäns wird dabei als KaltzeitKomplex verstanden, der durch die Ausbreitung der nordischen und alpinen Gletscher gekennzeichnet ist (Eiszeit).
Gravettien 29.000 – 22.000 BP Begriff 1938 von D. Garrod eingeführt, nach dem Abri La Gravette (Dèp. Dordogne, Frankreich): In weiten Teilen Europas verbreitete Kultur des mittleren Jungpaläolithikums; Ausdehnung von der Iberischen Halbinsel bis zum Ural. Phase überwiegend kalten Tundren- bzw. Steppenklimas, Die Menschen sind auf die Jagd von Großwild spezialisiert, besonders Mammut. Das G. folgt auf das Aurignacien und fällt in die Zeit globaler Abkühlung vor dem 2. Maximum der Weichsel-/ bzw. Würm-Eiszeit. Gravette-Spitze Begriff 1906 von H. Breuil eingeführt: Schmale, spitz zulaufende Klinge, meist aus Feuerstein, mit steiler Rückenretusche (Schäftungsfläche). Leitform des älteren Gravettien bzw. Perigodien IV. Retusche oft distal spitz zulaufend, selten proximal. Holozän seit 9.700 v. Chr. (griech. holos: haupt-) Mit dem Abklingen der letzten Kälteschwankung (Jüngere Dryas) am Ende der Würm- bzw. Weichselkaltzeit be-gann die bis in die Gegenwart reichende Warmzeit des H. (Gegensatz zum Pleistozän).
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Kleines Glossar zur Archäologie der Eiszeit Interglazial Auch Warmzeit oder Zwischeneiszeit genannt: Ein warmklimatischer Zeitabschnitt zwischen zwei Glazialen, der vom Rückgang der Vergletscherung und Meeresspiegelerhöhung geprägt ist. Typisch ist die warmzeitliche Großsäugervergesellschaftung (Waldelefantenfauna oder „Palaeoxodon-Fauna“ mit Flusspferd, Waldnashorn, Auerochse u.a.), die warmzeitliche Waldvergesellschaftung sowie begrabene Böden, Süßwasserkalke und lakustrine Sedimente. Letzte große Interglaziale: Eem-, Holstein-, Cromer-, Waal- und Tegelen-Interglazial. Interstadial Wärmeschwankung innerhalb einer Kaltzeit (Eiszeit bzw. Glazial), die während der Stadiale ihren Zenit erreicht und von I.en unterbrochen wird. Die Folge sind vorübergehende Stillstands- bzw. Rückzugsphasen des Eises, jedoch ohne vollständigen Eisabbau. Herausbildung von steppenartigen Vegetationsformen bis zu Nadelwäldern. Die Arten, die einen breiten Toleranzbereich in Bezug auf die schwankenden Temperaturen besitzen (eurytherm), bestimmen sowohl das Vegetations- als auch das Faunenbild. Kalibration Abgleich der Radiokarbondaten mit echten Kalenderjahren, welche im Text mit „v. Chr.“ angegeben werden. Die
Kalibration ist bis zu einem Alter von 27.000 Radiokarbonjahren allgemein akzeptiert. Zugrunde gelegt ist das Programm Calpal-Online (www.calpalonline.de). Keilmesser Werkzeug und Leitform des Micoquien, meist aus Silex oder Kieselschiefer hergestellt. Die K. besitzen eine annähernd gerade, beidflächig retuschierte Schneide und einen graden oder geknickten Rücken (synonym auch „Faustkeilschaber“ genannt). Kern/ Kerngerät Ausgangsstück (präpariertes Rohstück) zur Herstellung geschlagener Steinartefakte. Jedes Gestein, von dem mindestens ein Abschlag im Sprödbruch abgetrennt wurde, ist damit ein K., kenntlich durch die konkave Fläche (Negativ) nach der Abspaltung. Während ein Abschlagkern ad hoc ohne Anlage einer Schlagfläche angeschlagen werden kann, ist bei einem Klingenkern zur Kontrolle der Klingenabtrennung stets die Anlage einer Schlagfläche und eines Leitgrades erforderlich. Kratzer Charakteristisches Steinwerkzeug des Jungpaläolithikums mit durchgehender bogenförmiger Retusche („Kratzerkappe“).
123 Levallois-Technik Begriff nach dem Pariser Vorort Levallois an der Seine, wo diese Technik gegen Ende des 19. Jh. erstmals festgestellt wurde. Volumetrisches Konzept der Bearbeitung von Feuerstein (auch „Schildkerntechnik“ genannt, dessen Verständnis sich in jüngerer Zeit mehrfach geändert hat, insbesondere in Abgrenzung zur sog. Diskus-Technik. Verbreitung in weiten Teilen Eurasiens und Afrikas während des Mittelpaläolithikums, vom Acheuléen bis zum Moustérien. Beginn der L.T. wurde als Definitionskriterium für den Beginn des Mittelpaläolithikums vorgeschlagen (G. Bosinski 1963). Arbeitsschritte: (1) Zunächst wird der Kern durch zentripetale Negative so bearbeitet, dass im Qurschnitt zwei asymmetrische, konvex gewölbte Oberflächen entstehen. Die größere Unterseite ist die Volumenseite, die Oberseite wird die Abbaufläche für den Zielabschlag. (2) Dann wird der erste große Abschlag von der flachereren Kernoberseite abgetrennt, indem auf eine seitliche kleine Schlagfläche geschlagen wird. Das Ergebnis ist ein allseitig scharfer Levallois-Zielabschlag, der auf der Dorsalfläche Reste der zentripetalen Präparationsnegative aufweist. (3) Der Kern wird erneut für einen Zielabschlag präpariert, oder es werden weitere Zielabschlage abge-
trennt, sofern die Abbaufläche noch konvex genug ausgebildet ist. Zielabschläge können unipolar oder bipolar abgetrennt werden, d.h. von einer oder zwei Schlagflächen ausgehend. Magdalénien ca. 19.000 – 12.000 v. Chr. Begriff 1863 von E. Lartet eingeführt, nach seinen Grabungsfunden im Abri La Madeleine (Dordogne). Jüngste Kultur des Jungpaläolithikums, Verbreitung in SW-Europa (Nordspanien, Frankreich) und in der eisfreien Tundra des nördlichen Mitteleuropa. Die nomadisierende Wirtschaftweise beruhte auf Jagd großer Herden (Wildpferd- und Ren), untergeordnet in SW-Europa auch Rothirsch. Großwild wie Mammut und Wollnashorn waren dagegen durch Überjagung bereits fast ausgerottet und nach Osteuropa abgedrängt. Neben Höhlen und Abris sind auch Freilandsiedlungen nachgewiesen, mit hautbespannten Zelten von bis zu 8m Durchmesser. Gekocht wurde in mit Tierhaut ausgelegten Gruben, deren Inhalt mit Kochsteinen erhitzt wurde. In den Siedlungen gibt es in einigen Fällen Bestattungen mit Beigaben und reicher Ockerbestreuung. Inventar: In der ältesten Stufe (Badegoullien) sind die Steingeräte wenig hochwertig; später ähneln sie Formen des vorausgehenden Gravettiens. Erst-
mals Harpunen und Widerhakenspitzen aus Knochen, Geweih oder Silex. Diese werden als Speerprojektile gedeutet, die mit der Speerschleuder geworfen wurden (Höhepunkt M III-IV). Zeit der gewaltigsten Höhlenmalereien (z.B. Lascaux, Altamira). Kleinkunst (Stein, Knochen, Geweih, Elfenbein) universal verbreitet und z.T. über große Distanzen transportiert. Auffällig für das M. ist die Vorliebe für Schmuck aus Tierzähnen, Perlen und Muscheln. Nachfolger des M. waren in Nordeuropa die Hamburger Kultur und Federmessergruppen. Micoquien ca. 100.000/65.000 – 40.000 v.h. Begriff 1916 von O. Hauser eingeführt, nach fundreichen Kulturschichten in La Micoque bei Les Eyzies in der Dordogne (SW-Frankreich). Mittelpaläolithische Kultur der frühen (heute umstritten) sowie vor allem der mittleren Weichsel- bzw. Würmeiszeit. Das Verbreitungsgebiet des M. liegt in Mitteleuropa, von Westfrankreich bis Ungarn. M. dient nur noch als Oberbegriff, da das Fundgut in regionale Ausprägungen unterteilt werden kann (sog. Keilmessergruppen). Träger der Steinindustrie war der Neandertaler. Kennzeichnend sind Geräte mit bifazieller Flächenretusche: Faustkeile mit massiver Basis und flach ausgezogener Spitze (Micoque-Keile), Faustkeilblät-
ter, Keilmesser und Blattspitzen sowie verschiedene Schaberformen. Mindel-Eiszeit/ Mindelglazial ca. 500.000 – 430.000 v.h. Begriffseinführung 1905 von A. Penck & E. Brückner als eine der vier klassischen alpinen Eiszeiten des Pleistozäns, benannt nach dem Flüßchen Mindel in Bayern. Davor lag das Günzglazial, danach folgen Riß- und Würmglazial. Die entsprechenden glazifluvialen Ablagerungen werden als jüngere Deckenschotter bezeichnet. Das M.G. wird vom Mindel-Riss-Interglazial abgelöst, das der nordischen Holstein-Warmzeit entspricht. Moustérien ca. 120.000 – 40.000 v. h. Begriff 1869 von G. de Mortillet eingeführt, nach der Fundstelle Le Moustier (Dordogne, SW- Frankreich). Mittelpaläolithische Kultur in Europa, dem Nahen Osten, in N-Afrika und W-Asien. Verbreitung von der Eem-Warmzeit bis zur mittleren Würm-Eiszeit. Träger des M. ist der Neandertaler. Kennzeichnend sind Geräte mit unifazieller Retusche: schmale Spitzen, Spitzformen mit konvexen Kanten und Doppelspitzen, sowie Geräte in Levallois-Technik. Verbreitungsgebiet ist ganz. Nur in Westeuropa wird das Moustérien de Tradition Acheuléenne (MtA) noch als eigenständige
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Kleines Glossar zur Archäologie der Eiszeit Kultur angesehen, während in Mitteleuropa fließende Übergänge der Inventare mit dem Micoquien bestehen. Hierfür wurden Konstruktionen wie „Moustérien mit Micoquien-Option“ (Micoquien/M.M.O.) aufgestellt. Paläolithikum (griech. palaios: alt; lithos: Stein) Begriff 1865 eingeführt von J. Lubbock in seinem Werk „Prehistoric Times“, in dem er die Steinzeit in eine ältere (Paläolithikum) und eine jüngere (Neolithikum) Phase unterteilte. Er charakterisierte dabei das P. als Zeit des ungeschliffenen und das Neolithikum als die Zeit des geschliffenen Steines. Das P. stellt die älteste und zugleich längste Periode in der Menschheitsgeschichte dar und umfasst alle Jäger- und Sammlerkulturen. Sie beginnt mit der ältesten Werkzeugindustrie in Afrika, dem Oldowan, vor ca. 2, 4 Mio. Jahren und endet ungefähr mit der letzten Eiszeit um ca. 9500 v. Chr. und dem Einsetzen des Mesolithikums, in Europa der Übergangshorizont zum Neolithikum, welches das Einsetzen von Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht markiert. Pleistozän 1,8 Mio. – 9.600 v. Chr. (gr. pleistos: das Meiste) Älterer Abschnitt des Quartärs, dt.
„Eiszeitalter“ (früher auch „Diluvium“). Übergang Pliozän/ P. unterschiedlich definiert, veraltet auch mit Ende der Gauss-Magnetisierung vor 2,4 Mio. Jahren. Heute dreiphasige Untergliederung: 1. Alt-P. mit Beginn des Olduvai-Events vor 1,8 Mio Jahren bis zur MatuyamaBrunhes-Grenze 780.000 v.h. (beides paläomagnetisch definiert); 2. Mittel-P. bis zum Beginn des Eem-Interglazials; 3. Jung-P. bis zum Ende der Jüngeren Dryas (Beginn des Holozäns). Das P. ist geprägt von wechselnden Glazialen und Interglazialen. Am Ende des P. Aussterben eines Großteils der kaltzeitlichen Großsäuger (Wollnashorn, Mammut, Riesenhirsch etc.). Riss-Eiszeit ca. 350.000 – 130.000 v.h. Alpiner Kaltzeitkomplex im jüngeren Mittelpleistozän, nach der Eisrandlage am süddeutschen Fluss Riss (umgangssprachlich auch „vorletzte Kaltzeit“). Bedeutendste Alpenvereisung bezüglich der Mächtigkeit der Ablagerungen. Nach E. Bibus können mindestens drei Eisvorstöße registriert werden, die als Zungenriss, Doppelwall-Riss und EndRiss bezeichnet werden. Eine direkte Korrelation mit Vereisungen der nordischen Saale-Eiszeit ist bislang nicht gesichert.
125 Saale-Eiszeit/ Saale-Komplex ca. 350.000 – 130.000 v.h. Sog. vorletzte Eiszeit im nordischen Vereisungsgebiet, nach der Eisrandlage entlang der mitteldeutschen Saale (Höhe Naumburg/ Bad Kösen). Die Vergletscherung bleibt von Ostsachsen nach Westen bis zum Isergebirge hinter der vorangegangenen Elster-Eiszeit zurück, markiert insgesamt aber die maximale Vereisung Europas im Pleistozän. Von der vorhergehenden Elster-Eiszeit trennt sie das Holstein-Interglazial, zwischen ihr und der Weichsel-Eiszeit liegt das Eem-Interglazial. Die S.E. entspricht der Riss-Eiszeit im Alpengebiet, wobei die drei einzelnen Eisvorstöße (Drenthe I-, II- und Warthe-Stadial) nicht mit Sicherheit mit den alpinen Eisrandlagen korreliert werden können. Die S.E. wird zur Vermeidung von Auslegungsproblemen heute SaaleKomplex genannt und umfasst den gesamten Zeitraum nach dem Holstein- und vor dem Eem-Interglazial. Schaber Meist aus Abschlägen hergestelltes Steinwerkzeug; häufiges Gerät des Alt- und Mittelpaläolithikums. Der S. verfügt über mindestens eine längsseitig retuschierte Kante. Klassifikation mittelpal. S. nach F. Bordes: Modifika-
tionen des einfachen S. (mit nur einer retuschierten Kante) sind Breitschaber (nur das Distalende wird retuschiert), Spitzschaber (mit bilateraler, spitz zulaufender Retusche), Doppelschaber (mit zwei retuschierten, annähernd parallelen Kanten). Bifazielle S. (mit bifazieller Retusche, von denen nur eine Seite ordentlich bearbeitet ist, siehe auch Blattspitze) und bifazielle S. (mit ventraler und dorsaler Retusche). Solutréen ca. 21.000 – 18.000 v.h. Begriff 1866 von E. Lartet und B. Christy eingeführt, nach den seit 1864 durchgeführten Grabungen bei Solutré (Dep. Saone-et-Loire, Frankreich). Archäologische Kultur des mittleren Jungpaläolithikums im Zeitraum des letzten Kältemaximums; Hauptverbreitungsgebiet im von der Vereisung nicht betroffenen SW-Frankreich und der Iberischen Halbinsel. Einzelne Fundstellen reichen bis nach Mitteleuropa (bis S-Polen). Kennzeichnende Werkzeuge sind langschmale und regelmäßig flächenretuschierte Blattspitzen („Lorbeerblattspitzen“ und „Weidenblattspitzen“), die bis zu 40 cm lang und wegen der Überarbeitung mittels Druckretusche auch hauchdünn sein können.
Speerschleuder Kompositgerät zur Verlängerung des Wurfarmes beim Speerwerfen, bestehend meist aus einem hölzernen Schaft mit einem aus Rengeweih gefertigten Hakenende. Verbreitung nahezu weltweit, vom oberen Solutréen über das Magdalénien III-IV in SW-Frankreich und dem nordwestspanischen Pyrenäengebiet, bis in subrezente Zeit (z.B. Australien, Mittelamerika, Arktis, Mikronesien). Der Widerhaken wurde in der Blütezeit der paläolithischen S. teils aufwendig als Tierkörper gestaltet. Stichel Wichtige Werkzeugklasse des Jungpaläolithikums. Auf eine Plattform am Ende einer Klinge bzw. eines Abschlags aus Feuerstein wird ein Stichelschlag gesetzt. Dieser trennt einen langschmalen Stichelabfall (auch: Stichelbahn, Stichelschneide) ab, der z.T. ebenfalls als Gerät (Pfriem, Widerhaken in Projektilen) verwendet wird. Je nach Anzahl der Stichelbahnen und entstandener Form der Arbeitskante werden einzelne Formen unterschieden. Wegen der scharfen und abgewinkelten Arbeitskante werden S. zum Abtrennen von Spänen verwendet, z.B. beim Schnitzen von Elfenbein. Entsprechende Späne werden in jungpaläolithischen Schichten
gefunden (z.B. Geissenklösterle und Hohler Fels, Baden-Württemberg). Weichsel-Eiszeit/ Weichselglazial ca. 115.000 – 11.600 v.h. Begriff nach der weitesten Eisrandlage an der Weichsel (Polen): Jüngster Vereisungszyklus der nordischen Inlandvereisung, entspricht in allen Abschnitten der alpinen Würm-Eiszeit (siehe dort auch Angaben zu den Hochglazialen). Würm-Eiszeit/ Würmglazial ca. 115.000 – 11.600 v.h. Begriff 1905 von A. Penck & E. Brückner eingeführt, nach der Eisrandlage am bayerischen Flüsschen Würm, dem Abfluss des Starnberger Sees. Jungpleistozäne Eiszeit des Alpenraumes, entspricht der nordischen Weichsel-Eiszeit. Während die W.E. den gesamten Zeitraum nach dem Ende der Eem-Warmzeit bis zum Beginn des Holozäns umfaßt, sind die eigentlichen Würm-Vereisungen (Hochglaziale/ Pleniglaziale) auf relativ kurze Zeiträume beschränkt: das erste Kältemaximum (= OIS 4) von ca. 70 – 60.000 v. h., das zweite oder „letzte“ Kältemaximum (LGM = OIS 2) von ca. 22 – 18.000 v. h.
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Report "(2008) (Hrsg.): Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler. Fürth (Praehistorika). "